… Zugleich mit diesen Schritten vernahm Rosenblau mit ihren so gut trainierten Ohren auch noch das Gemurmel, das entsteht, wenn mehrere Menschen in einer gewissen Entfernung nicht besonders leise mit einander sprechen. Tiefe Stimmen waren das, Männerstimmen. Sie passten zu dem Getrampel großer Stiefel auf dem Waldboden. Wer auch immer da kam, besonders vorsichtig gingen diese Kerle nicht durch den Wald. Und sie stapften recht zielstrebig näher, offenbar kannten sie sich gut aus. Ob es die Räuber waren?
„Rußschwarzchen, da kommen einige Männer, vielleicht die Räuber. Schnell, wir müssen von hier verschwinden, aber wir sollten sie auch beobachten. Siehst du einen Baum, auf den wir gut klettern können?“, raunte sie ihrem Freund zu. Auf einen Baum zu klettern schien ihr hier im Wald die beste Lösung zu sein. Zusammen mit dem Nachbarsjungen Rußschwarzchen war sie schon auf Bäume geklettert, als beide gerade mal laufen konnten. Beim Klettern war ihre Blindheit kaum ein Hindernis: Sie sah zwar nicht, wo ein starker, tragfähigerAst war, aber sie konnte ihn tasten. Und das Gleichgewicht halten konnte sie besser als die meisten sehenden Menschen, weil sie sich stets der Lager ihres Körpers bewusst sein musste; eine Aufmerksamkeit, die Sehende meist an ihre Augen abgeben.
Ihr Freund verstand sofort, was sie meinte. Ohne ein Wort griff er nach ihrer Hand und zog sie sanft und behutsam zu einem Baum, dessen dicke Äste sich tief unten zu verzweigen begannen. Das Mädchen konnte sicher sein, dass der Junge den besten Kletterbaum ringsum ausgemacht hatte. Noch wenige Handgriffe, schon hatten sie sich hochgezogen, waren weiter geklettert und im bereits dichten Frühlingslaub verschwunden.
Inzwischen stapften die Männer näher, fünf oder sechs mochten es sein, sie schimpften laut vor sich hin: „…nicht gefunden. Nirgends ist eine andere Höhle oder sonst ein Unterschlupf“, konnte sie erlauschen. Ein anderer meinte: „So was Blödes! Und bei uns in der Höhle stinkt es so furchtbar. Einfach ekelhaft!“
Ein dritter gab zu bedenken: „Aber dem gefangenen Prinzen gönn‘ ich die vielen Fliegen, die der Gestank in unsere Höhle gelockt hat. Da sieht der feine Herr mal, wie das ist.“ Rosenblau horchte auf. Das waren also wirklich die Räuber, oder zumindest ein Teil der Bande, sie waren anscheinend auf der Suche nach einer neuen Höhle, in der es weniger stank. Hatte sie nicht vorhin ganz nahe bei dem Brombeergestrüpp, dessen Früchte eigenartigerweise jetzt im Mai schon reif waren, die Spur eines unangenehmen Geruchs wahrgenommen? Noch während sie überlegte, spürte sie im Baum neben sich eine rasche Bewegung. Rußschwarzchen war auf dem Ast, auf dem er saß, ins Rutschen gekommen, rasch griff er nach einem zweiten Ast, um sich festzuhalten, doch dieser war morsch und brach mit lautem Knacken entzwei. Zwar konnte der Junge das Gleichgewicht schnell wiederfinden, aber die Räuber, die genau in diesem Moment unter dem Baum angekommen waren, spähten nach oben und erblickten den Arm des Mädchens und ein Stück von Rußschwarzchens Hose.
„Wen haben wir denn da?“, brüllte einer der Räuber los. „Runterkommen, ihr da, sofort! Was macht ihr da?“
„Wir, wir … äh… spielen bloß. Wir spielen Baumklettern“, stammelte das Mädchen geistesgegenwärtig, bevor sie und ihr Freund sich anschickten, dem Befehl des Räubers zu gehorchen und wieder nach unten zu klettern. Wenige Sekunden später standen sie vor den sechs Räubern (dass es sechs waren hatte sie inzwischen anhand der unterschiedlichen Stimmen erkannt).
Der Räuber, der vorhin dem Prinzen die Fliegen gönnen wollte, meinte verächtlich: „Die zwei sind fast noch Kinder. Arm, zerlumpt und bestimmt verlaust. Und seht mal die dämliche Visage des Jungen! Die sind harmlos.“
„Stimmt“, brüllte ein anderer. „Los ihr zwei, verschwindet, aber schnell! Sonst machen wir euch Beine!“ Während die Räuber in dröhnendes Gelächter ausbrachen, ergriff das blinde Mädchen die Hand ihres Freundes und zog sie mit Nachdruck in die Richtung, aus der sie ursprüngich gekommen waren. Richtungen konnte sie sich sehr gut merken: Weil ihr Kopf ja keine Bilder abspeicherte, nahm sie stets wahr, wenn sie sich auch nur ein klein wenig drehte oder wendete. Inständig hoffte sie, dass Rußschwarzchen jetzt nicht den Helden spielte, sondern dass er die Beledigung vorerst schluckte, denn es war ihre Chance zu entkommen. Und der Junge begriff tatsächlch, dass er sie so schnell wie möglich von hier fortführen musste. Außerdem war es diesmal ein Glück, dass sein Gehirn so langsam arbeitete, denn er hatte die Bedeutung der Worte „dämliche Visage“ noch längst nicht begriffen.
Auf diese Weise entfernten sich die beiden Freunde ein Stück von den Räubern, die ihnen wohl zunächst nachgeschaut hatten. Aber als die bösen Kerle merkten, dass sich die Jugendlichen brav verzogen, wandten sie sich wieder um und redeten weiter von dem Gestank in ihrer Höhle. „Rußschwarzchen“, flüsterte Rosenblau, „schau dich vorsichtig um. Wenn die Räuber nicht auf uns achten, dann verstecken wir uns hier irgendwo. Sag nichts und versuch sie unauffällig zu beobachten.“
„Hmm“, machte ihr Freund nur, er hatte verstanden. Auch wenn sein Kopf oft sehr langsam arbeitete, begriff er intuitiv mehr, als man denken würde. Gleich darauf zog er sie sanft hinter einen großen Felsblock, hinter dem er vorsichtig hervorspähen konnte. Und später, als die Stimmen und Schritte der Räuber schon längst dumpf verklungen waren, berichtete er ihr, was er gesehen hatte: Hinter dem Brombeerbusch waren die Räuber verschwunden, dahinter war offenbar der Eingang zu dieser stinkenden Höhle, in der auch der Prinz gefangen sein musste.
In ihrem Versteck hinter dem Felsblock warteten die beiden Freunde bis tief in die Nacht. Dann schlichen sie zu dem Brombeerstrauch, hinter dem jetzt nicht nur der Gestank hervordrang, sondern auch vielstimmiges Schnarchen. Rosenblau bat den Jungen, hier zu warten, zur Sicherheit. Falls ihr etwas zustoßen sollte, könnte er Hilfe holen. Dann schlich sie auf Zehenspitzen in die Höhle, deren Eingang tatsächlich hinter den Brombeeren lag. Dass es in der Höhle stockfinster war, hätte für jeden anderen ein großes Poblem dargestellt, nicht aber für Rosenblau, für sie war das ja der Normalzustand. Am Schnarchen der Räuber konnte sie sich auch gut orientieren. Bald erkannte sie, dass hier deutlich mehr Räuber schnarchten, als vorhin vor der Höhle gewesen waren. Vermutlich war ein Teil der Räuber in der Höhle geblieben, um den Prinzen zu bewachen – in der Höhle, in der es wirklich entsetzlich stank. Nur die Fliegen hatten sich für die Nacht ebenfalls zur Ruhe begeben.
Einer von den Räubern schnarchte anders als die anderen, leiser, durch eine schmalere Nase. ‚Wie eine Frau,‘ dachte Rosenblau, und sofort fielen ihr diese seltsamen Brombeeren ein. Ob diese Frau eine Hexe war? Lautlos ging sie in die Hocke und tastete über den Boden. Sie bekam einen langen Stab zu fassen, auf ihm spürte sie Schnitzereien, vielleicht geheime Zauberzeichen. Das musste der Zauberstab der Hexe sein!
Ohne zu zögern nahm sie ihn an sich und tastete weiter. In der entgegengesetzten Richtung hörte sie noch weitere Atemgeräusche, deutlich leiser, vielleicht war hier der Prinz. Dorthin wandte sie sich, schon spürte sie weiche Stoffe unter ihren Händen, Seide und fein gewebte Wolle. In den Gestank mischte sich das vornehme Parfum des Prinzen. Als sie nach den Knoten in den Stricken tastete, mit denen der Prinz gefesselt war, erwachte dieser, doch begriff er, dass jemand ihn zu befreien versuchte, also verhielt er sich ganz still. Es dauerte nicht lange, bis sie die Fesseln und den Knebel gelöst hatte. Sie ergriff die Hand des Prinzen und zog diesen vorsichtig und nahezu geräuschlos hinter sich her zum Ausgang. Bald kroch sie mit dem befreiten Prinzen hinter den Brombeeren hervor – und Rußschwarzchen fiel ein schwerer Stein vom Herzen, er hatte so um seine Freundin gebangt.
Auf schnellstem Weg wanderten die drei nun zum Königsschloss. Rosenblau hatte ungefähr eine Vorstellung von der Richtung, in die sie gehen mussten. Sie kamen aus dem Wald hinaus und begegneten einem wandernden Handwerksburschen, der ihnen den Weg zur Stadt des Königs und zum Schloss beschreiben konnte.
Kaum waren sie am Schloss angekommen, eilte der König höchstselbst zum Tor, um seinen Sohn glücklich in die Arme zu schließen. Der ließ sich das gerne gefallen, doch dann befreite er sich aus der Umarmung des Vaters und stellte diesem das Mädchen Rosenblau als seine zukünftige Braut vor. „Jedenfalls, wenn du einverstanden bist, Rosenblau“, fügte der Prinz mit zitternder Stimme hinzu.
„Gerne mag ich dich heiraten… ähhh, Sie heiraten,… ähh königliche Hoheit“, stammelte das Mädchen aufgeregt, „aber Rußschwarzchen soll dann die ganze Belohnung bekommen, die ganzen tausend Goldtaler.“
„Was!??“, entfuhr es dem Nachbarsjungen. „Tausend Goldtaler? Ich dachte, wir bekommen Weihnachtsplätzchen zur Belohnung! Die schmecken doch viel besser als so blöde Goldtaler!“
Da erkannte der kluge König, dass man mit Gold nicht jedem eine Freude machen konnte. „Keine Sorge“, beschwichtigte er Rußschwarzchen, dem vor Enttäuschung schon Tränen in die Augen schossen, „du sollst deine Plätzchen bekommen. Für dich wandle ich die Belohnung um. Du darfst genauso wie das Mädchen Rosenblau hier im Schloss leben, und der Hofbäcker soll dir dein ganzes Leben lang so viele Weihnachtsplätzchen backen, wie du magst.“
Rußschwarzchen wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel und strahlte. Jetzt war auch für ihn das Glück perfekt.
Und so sollte es auch bleiben: Der König schickte alsbald seine Ritter in den Wald, die alle Räuber und die Hexe, die ohne Zaberstab nicht mehr zaubern konnte, festnahmen und ins Gefängnis warfen. Als dann die große Hochzeit gefeiert wurde, bekam Rußschwarzchen zur Feier des Tages einen besonders großen Teller mit Weihnachtskeksen. So lebten alle lange glücklich und zufrieden, und wenn sie nicht gestorben sind, dann nascht Rußschwarzchen noch heute seine geliebten Plätzchen.
© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 3b der Grundschule an der Maria-Ward-Straße, München