… Rosenblaus Ohren waren sehr gut trainiert, weil sie sich immer mit ihrem Gehör orientierte, wo andere Menschen die Augen nutzen konnten. Daher vernahm sie diese Schritte schon, als sie noch sehr weit entfernt waren. „Rußschwarzchen“, wisperte sie, „da kommt jemand. Vielleicht ist es einer von den Räubern? Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns verstecken.“
„Woher weißt du denn, das nur einer kommt?“, fragte ihr Freund, „Ich sehe niemanden.“
„Ich höre die Schritte einer Person, die näher kommt. Wenn merere Menschen im Gleichschritt marschieren würden, klänge das anders. Jetzt aber schnell! Wo können wir uns verstecken?“
„Bei diesem Brombeerbusch. Ich mach‘ das schon.“ Mit Verstecken kannte sich Rußschwarzchen aus, dieses Spiel mochte er sehr gerne. Und er war es gewohnt, stets auf die Blindheit seiner Freundin Rücksicht zu nehmen. Behutsam ergriff er ihre Hand und zog sie seitlich hinter die Brombeeren, denn er hatte gesehen, dass es da einen schmalen Trampelpfad gab. Offenbar war schon oft jemand seitlich hinter die Brombeeren gekrochen. Allerdings mussten sie auf allen Vieren gehen, der Durchschlupf war sehr niedrig. Dabei achtete der Junge genau darauf, dass sich das blinde Mädchen nicht die Haut an Brombeer-dornen riss. Er war so konzentriert darauf, seine Freundin vor Gefahren zu beschützen, dass er nicht einmal bemerkte, dass hinter dem Brombeerbusch der Eingang zu einer tiefen Höhle verborgen war.
Inzwischen waren die Schritte schon sehr nahe gekommen. Die beiden hörten, wie eine Frauenstimme ein paar seltsam klingende Worte murmelte – und mit einem Mal geschah eine unerklärliche Bewegung ringsherum. Die dichten Brombeerzweige verschwanden einfach, sie lösten sich in Luft auf. Rußschwarzchens Mund stand staunend offen.
Die Person, die da näher gekommen war, kreischte: „Ja, wen haben wir denn da? Ein dreckiger Bengel und eine Göre! Ihr habt wohl unser Versteck entdeckt. Wie gut, dass ich zu faul war, hinter die Brombeeren zu kriechen, und deshalb die Sträucher einfach weggezaubert habe.“ Dann holte sie tief Luft und brüllte weiter: „Räuber, schnell! Packt die beiden und sperrt sie zu dem Prinzen!“
Schon ertönte das Getrampel vieler Männerstiefel, als die Räuber aus der Höhle stürmten. Selbst wenn Rosenblau sehen hätte können, wäre es zwecklos gewesen wegzulaufen. Auf der einen Seite stand diese Frau, die offenbar eine Hexe war. Und von der anderen Seite kamen die Räuber!
Sofort griffen harte Männerhände nach dem Jungen und dem blinden Mädchen, das vor Angst laut aufschrie: „Vorsicht, ich bin blind!“ Aus Erfahrung wusste sie, dass es wichtig war, dies allen Menschen baldmöglichst mitzuteilen, denn sonst würde jeder davon ausgehen, dass sie zum Beispiel Hindernisse sehen könnte. Ihr treuer Freund war so überrumpelt, dass es ihm vollends die Sprache verschlagen hatte.
Wenige Augenblicke später fanden sich die beiden Freunde gefesselt und geknebelt im Inneren der Höhle wieder. Links neben ihnen lag noch eine weitere Person auf dem Höhlenboden, diese war anscheinend ebenfalls geknebelt, Rosenblau hörte das an den Atemgeräuschen. Das musste der Prinz sein!
Der tapfere Rußschwarzchen lag rechts von ihr, er wälzte sich hin und her, wobei er vergeblich versuchte die Fesseln zu lösen. Schließlich gab er auf und fügte sich in die Gefangenschaft. Rosenblau bedauerte es sehr, dass sie ihn wegen des Knebels nicht trösten, ihm keinen Mut zusprechen konnte. Sie hatte nämlich bereits einen Plan gefasst.
Still mussten sie alle nun ausharren, bis es endlich Abend wurde und die Räuber sich in der Höhle schlafen legten. Das war leicht festzustellen, denn die Räuber schnarchten fürchterlich. Außerdem konnte sie aus den Gesprächen der Räuber, die sie zuvor gehört hatte, schließen, dass die Räuber keine Wachen auf-gestellt hatten.
Diese Gelegenheit nutze Rosenblau. Sie wälzte sich auf den Rücken und schob sich dann fast laulos an die nächste Wand. Wie sie vermutet hatte, war die Höhle grob aus dem Gestein gehauen, es gab viele scharfe Steinkanten. Mit ihren geschickten, aber gefesselten Händen spürte sie eine scharfe Kante, an die sie gut herankommen konnte. Dann begann eine mühevolle Geduldsprobe: Rosenblau versuchte, mit dem scharfen Stein die Fesseln aufzuscheuern, ohne die Haut allzusehr zu verletzen. Mehr als eine Stunde arbeitete sie, keine Sekunde dachte sie ans Aufgeben. Sie spürte, dass der Strick ihrer Fessel langsam mürbe wurde. Eine Faser nach der anderen gab schließlich nach, dann hatte sie es geschafft: die Stricke fielen von ihren Handgelenken.
Dagegen war der Rest eine Kleinigkeit: Bald hatten ihre flinken Finger die Knoten der Fußfessel und natürlich den scheußlichen Knebel gelöst. Dass es in diesem Winkel der Höhle stockfinster war, erleichterte ihr die Arbeit sogar. Die Dunkelheit war für sie kein Hindernis, im Gegenteil, im Dunkeln würde man sie kaum sehen können. Serlbstverständlich waren auch der Prinz und Rußschwarzchen im Handumdrehen befreit. Dann schlich ihnen Rosenblau durch die Finsternis voran zum Ausgang der Höhle, während die Räuber und die Hexe weiterschnarchten.
Aus der Höhle zu gelangen war einfach: die Hexe war so eifrig damit beschäftigt gewesen, die beiden Jungendlichen in der Höhle einzusperren, dass sie ganz vergessen hatte, die Brombeeren wieder vor den Höhlenausgang zu zaubern.
Draußen blickte der Prinz sich um: Wohin sollte er sich wenden? Wohin sollten sie flüchten? Da vernahm Rosenblau das leise Wiehern eines Pferdes: Die Räuber hatten doch das Pferd des Prinzen ebenfalls gestohlen und unweit von ihrer Höhle an einen Baum gebunden. Nach wenigen Miunten gelangten die Flüchtenden zu dem treuen Hengst, der aufgeregt an seinem gewohnten Reiter und dessen Rettern schnupperte.
Sofort schwang sich der Prinz auf das Pferd und er half auch seinen beiden Gefährten hinauf – so schnell sie konnten, ließen sie den gefährlichen Wald hinter sich. Bald hatte der Prinz eine Straße gefunden, ab hier kannte er sich aus, noch vor dem Morgengrauen erreichten sie gemeinsam das Schloss seines Vaters.
Wie erleichtert der König über die Rettung seines einzigen Sohnes war, kann man sich denken. Unverzüglich wies er den Schatzmeister an, den beiden Jugendlichen die versprochene Belohnung von 1000 Goldtalern auszuzahlen. Der Prinz aber unterbrach seinen Vater: „Natürlich haben meine beiden neuen Freunde die Belohnung verdient. Aber mein Herz kann nun nicht länger warten!“ Dann fiel er vor Rosenblau auf seine Knie und bat sie, seine Frau zu werden. Und das Mädchen willigte lächelnd ein, aber nur unter der Bedingung, dass auch ihr Jugendfreund Rußschwarzchen für immer im königlichen Schloss leben dürfe.
Als die Räuber am nächsten Morgen erwachten und merkten, dass ihre Gefangenen entkommen waren, bekamen sie es mit der Angst. Sie alle nahmen Reißaus – und im ganzen Land sah man sie nie wieder.
Die Bauern in dem kleinen Dorf sprachen von nun an nur mit der größten Bewunderung über ihre Helden. So lebten alle lange glücklich, und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 3a der Grundschule an der Maria-Ward-Straße, München