… Dass sich hier irgendwelche Personen näherten, war kaum zu überhören. Auch Rußschwarzchen merkte bald etwas und lauschte. Aber da waren seiner blin-den Freundin mit ihren so gut trainierten Ohren längst viele Details aufgefallen. „Rußschwarzchen“, wisperte sie, „da kommen mehrere Leute. Sie gehen zielstrebig hierher, und sie sind nicht besonders vorsichtig, denn sie reden laut. Dreh dich mal um und schau, wer das ist. Aber bring mich vorher noch ein Stück weg von diesen Brombeeren , die haben sicher scharfe Dornen.“
Sofort ergriff der Junge ihre Hand und zog sie nach hinten, zur anderen Seite des schmalen Pfades, auf dem sie gekommen waren. Dabei wandte er sich um, fragte aber auch leise: „Wieso weißt du alles so genau? Ich hab noch nicht mal rausgehört, dass diese Geräusche Schritte sind.“
„Weil ich mich immer nur auf meine Ohren verlassen muss. Ich bin das gewohnt“, flüsterte sie.
„Jetzt sehe ich sie“, gab er ebenso leise zurück. „Sechs Leute, nein sieben. Alle mit schwarzen Mänteln und schwarzen Tüchern vor dem Gesicht.“
„Dann müssen es Räuber sein. Schnell, verstecken wir uns, bevor sie uns entdecken!“ Sie hatte den letzten Satz noch nicht zu Ende gewispert, schon handelte er. Wenn sein Denken auch langsam wie zäher Klebstoff war: Rußschwarzchen hatte ein gutes Gespür, das ihn meist das Richtige tun ließ. Den Brombeeren gegenüber war ein großer Fliederbusch, der jetzt im Mai schon voll mit Blättern und Blütendolden war – das beste Versteck weit und breit. So leise wie möglich verschwanden die zwei Freunde dahinter.
Plötzlich rief eine Frauenstimme bei den Räubern: „Seid mal still, ihr Hornochsen! Da ist was.“
Die Schritte verstummten. Ob die Räuber die beiden Freunde entdeckt hatten? Rosenblau und Rußschwarzchen wagten kaum zu atmen. Zwei oder drei endlos scheinende Sekunden verstrichen, dann knurrte eine tiefe Männerstimme: „Das war bestimmt bloß ein Tier. Ein Eichhörnchen oder ein Vogel beim Nestbau. Unsere Höhle ist so gut versteckt, da findet niemand den Prinzen. Los, bringen wir den Bärlauch, den Kerbel, den Löwenzahn und den Sauerklee, alles was wir gefunden haben, in unsere Höhle. Mir knurrt der Magen. Erst kochen wir uns Suppe, und zum Nachtisch essen wir den Rest von dem Kuchen, den wir heute gefunden haben. Hoffentlich haben uns die anderen in der Höhle noch nichts davon weggefressen.“
Ein anderer stimmte zu: „Und dann machen wir ein schönes Nachmittagsschläfchen, das haben wir uns verdient!“ Die Räuber kicherten böse, dann waren wieder ihre Schritte zu hören.
Was weiter geschah, berichtete Rußschwarzchen später: Die sechs Männer und eine Frau stapften bis zu den Brombeeren, dann gingen sie in die Hocke und krochen einer nach dem anderen seitlich hinter das Gestrüpp, an dem eigenartigerweise schon reife Brombeeren hingen. So verschwanden die Räuber. „Sie waren weg, als ob die Felswand hinter dem Brombeerbusch sie verschluckt hätte“, murmelte Rußschwarzchen, der das alles nicht begreifen konnte.
Seine blinde Freundin aber fand eine Erklärung: „Dann ist hinter den Brombeeren der Eingang einer Höhle versteckt. Das muss die Räuberhöhle sein, und der Prinz wird anscheinend dort gefangen gehalten, so haben es die Räuber vorhin gesagt. Wir haben ihn gefunden. Laufen wir rasch in unser Dorf zurück! Das müssen wir den Bauern sagen, dann können sie die Räuber fangen.“
„Und dann kriegen wir die Belohnung, die ganzen Weihnachtsplätzchen!“ Der Junge war in seiner Begeisterung immer noch davon überzeugt, eine bessere Belohnung als süße Kekse könne es auf der ganzen Welt nicht geben.
Als die beiden eine halbe Stunde später wieder in ihrem Dorf waren, war die Aufregung bei den Frauen zu größter Sorge gewachsen. Die Bauern waren noch immer nicht zurück, etwas Furchtbares musste ihnen widerfahren sein. Natürlich versuchten die zwei Jugendlichen, sich bei den Frauen im Dorf Gehör zu verschaffen. Sie hatten die Räuberhöhle entdeckt, in der allem Anschein nach der Prinz gefangen gehalten wurde. Vielleicht würde diese Spur sogar zu den verschollenen Bauern führen. Aber keine der Frauen hörte ihnen zu, ja, man ließ sie nicht einmal einen Satz zu Ende sprechen. Das blinde Mädchen und der Junge, der allgemein als völlig beschränkt galt, was wollten die schon herausgefunden haben? Sie sollten die Frauen nicht weiter stören, sonst setze es ein paar Backpfeifen.
Dass ihnen niemand glauben wollte, machte Rußschwarzchen sehr wütend. Aber das Mädchen hielt ihn davon ab, seinen Gefühlen in einem Wutausbruch freien Lauf zu lassen. Dann würde man ihn bestimmt im Dorf einsperren – und niemand könnte mehr den Prinzen befreien. Die beiden Freunde mussten das selbst schaffen. Die kluge Rosenblau hatte auch schon einen Plan: Vorhin hatten die Räuber davon gesprochen, dass sie den Nachmittag verschlafen wollten. Diese Zeit galt es zu nutzen. Während die Räuber schnarchten, würde sie sich in die Höhle schleichen und den Prinzen hoffentlich befreien können. Sie durften keine Zeit verlieren!
Da war die Begeisterung des Jungen aufs Neue entflammt. Ohne zu zögern nahm er ihre Hand und führte sie auf dem bekannten Weg zurück zur Räuberhöhle. Diesen Weg hätte Rosenblau fast schon alleine gehen können, denn sie hatte zuvor ihre Schritte im Stillen mitgezählt und sich jede Abbiegung oder Wendung genau eingeprägt. Auf ihre Weise hatte sie so eine ganz eigene Landkarte der Umgebung im Kopf. Aber gemeinsam kamen sie natürlich schneller vorwärts. Sie musste nicht vorsichtig einen Schritt vor den anderen setzen, denn auf ihren Freund konnte sie sich verlassen: er würde sie vor jedem Hindernis, vor jeder unebenen Wegstelle warnen.
Als sie eine halbe Stunde später wieder bei der Höhle ankamen, musste Rußschwarzchen ihr auch nicht sagen, dass sie am Ziel waren. Aus der Höhle drang leise das vielstimmige Schnarchen der Räuber. Wenn bloß wirklich alle schliefen! „Rußschwarzchen“, flüsterte sie, „bring mich noch hinter das Gebüsch, bis wir den Höhleneingang sehen.“
„Na klar!“, antwortete der liebe Nachbarsjunge. „Und dann geh ich rein und haue alle Räuber um!“ Das Mädchen legte ihm schnell die Hand auf den Mund, denn er hatte recht laut gesprochen. Die Räuber jedoch schnarchten zum Glück weiter.
Kurz daurauf kauerten sie hinter den Brombeeren direkt am Höhleneingang (wobei Rußschwarzchen stets bemüht war, jede noch so kleine Dorne von der zarten Haut seiner Freundin fern zu halten). Sie fragte wispernd: „Ist es da drin sehr dunkel?“
„Hmmm“, machte der Junge nur.
Daraufhin musste das Mädchen ihn enttäuschen, sie wollte nämlich alleine in die Höhle schleichen. Weil sie es gewohnt war, sich nur mit dem Gehör zu orientieren, würde sie sich da drin im Dunkeln gut zurechtfinden. An den Schnarchgeräuschen könnte sie die Räuber erkennen. Der Prinz war vermutlich in einer anderen Ecke der Höhle gefesselt, seine Atemgeräusche würden gewiss anders klingen. Sie könnte sich fast lautlos an ihn herantasten und mit ihren geschickten Fingern die Knoten der Fesseln lösen. „Du aber hast eine andere wichtige Aufgabe“, raunte sie Rußschwarzchen zu, um ihn zu trösten, aber auch, weil er ihr wirklich die einzige Sicherheit bot: „Du musst hier Wache halten und Hilfe holen, wenn mir etwas passiert. Oder mich warnen, wenn doch noch ein Räuber von draußen kommt. Rufe einfach wie eine Eule, dann weiß ich, dass du es bist. Eulen schlafen um diese Zeit, genau wie die Räuber.“ Diesen letzten Satz fand Rußschwarzchen so lustig, dass er sich sehr zusammennehmen musste, um nicht loszulachen. Und damit war seine Begeisterung zurück. Er war der beste Wächter, den man sich nur vorstellen konnte!
Die beiden Freunde drückten sich ein letztes Mal die Hand zum Zeichen, dass sie sich Glück wünschten. Dann verschwand das Mädchen in der Düsternis der Höhle. Die Miunten, die verstrichen, schienen nie enden zu wollen. Als der Junge schon gaubte, alles sei verloren, vernahm er endlich leise Geräusche aus der Höhle. Im Dunkel sah er eine schemenhafte Bewegung, dann war das Mädchen zurück. Hinter ihr kroch der Prinz aus der Höhle – der Plan war geglückt.
Allerdings ließen sie sich nicht viel Zeit, um ihre Erleichterung zu feiern. Wer konnte ahnen, wann die Räuber aufwachten? Auf schnellstem Weg wanderten die drei zum Königsschloss, wobei der Prinz und Rußschwarzchen das blinde Mädchen in die Mitte nahmen. Sie hakte sich bei beiden unter und konnte so gut Schritt halten.
Jedoch war es bis zum Schloss so weit, dass sie die ganze Nacht hindurch weitermarschieren mussten. Gottlob schien ein heller Vollmond, der genügend Licht verbreitete, sodass auch sehende Menschen sich zurechtfinden können. Gerne hätten sie sich irgendwo zum Schlafen niedergelegt, aber zwei Gründe spra-chen dagegen: Im Mai waren die Nächte noch sehr kühl, da war es besser, in Bewegung zu bleiben. Und je weiter sie von den Räubern entfernt waren, umso besser!
Als der Morgen dämmerte, gelangten sie mit sehr müden Füßen endlich zum Schloss, wo der König sich über die Rettung seines Sohnes unbeschreiblich freute. Sofort wollte er den beiden tapferen Jugendlichen die versprochene Belohnung von 1000 Talern aushändigen, der Prinz aber hielt ihn zurück. Zuerst schickte er die königlichen Ritter in den Wald, damit diese die Räuber festnehmen sollten. Dabei gab er ihnen den guten Rat, viele Efeuzweige mitzunehmen. Mit diesen sollten sie die Hexe fest umwickeln, damit kann man nämlich Hexenkräfte unterbinden. Genauso geschah das auch: Unverzüglich galoppierten die Ritter zur Räuberhöhle, die sie anhand der Beschreibung des Prinzen leicht fanden. Die Räuber schliefen hier schon wieder, hatten sie doch zuvor die halbe Nacht nach dem verschwundenen Prinzen gesucht. Auf diese Weise war es sehr leicht für die Ritter, die Hexe mit Efeu zu umwickeln, noch bevor sie die Räuber aus dem Schlaf rissen und festnahmen. Das Urteil hatte der König auch schon gesprochen: zur Strafe mussten alle Räuber und die ehemalige Hexe, die durch die Efeubehandlung für immer ihre Zauberkräfte verloren hatte, für die armen Bauern des Dorfes arbeiten.
Aber sobald sich die Ritter auf den Weg zur Festnahme der Räuber gemacht hatten, sank der Prinz vor Rosenblau auf die Knie und bat sie, seine Frau zu werden. Das Mädchen willigte lächelnd ein, aber nur unter der Bedingung, dass auch ihr Jugendfreund Rußschwarzchen mit ihnen im Königsschloss leben dürfe. Eine Bitte, die selbstverständlich gewährt wurde.
„Wissen Sie“, fügte das Mädchen dem König gegenüber hinzu, „Rußschwarzchen hat Geld noch nie interessiert. Er wünscht sich nichts mehr als ganz viele Weihnachtsplätzchen, weil die ihm am allerbesten schmecken.“
Als der König dazu lachend nickte, schien auch für den Jungen das Glück vollkommen. Dass es sogar noch besser kam, das hätte er sich niemals träumen lassen. Denn im Schloss freundete sich Rußschwarzchen bald mit der Hofköchin an, die ihm die besten Plätzchen buk, die er je gegessen hatte. Die wiederum freute sich, endlich jemanden mit ihrer Koch- und Backkunst richtig glücklich machen zu können – es verging kein Jahr, bis auch diese beiden liebenswürdigen Menschen vor den Traualtar traten.
So lebten alle lange glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann duftet es ihn dem schönen Schloss noch heute sehr oft nach weih-nachtlichem Backwerk.
© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 2a der Grundschule an der Ichostraße, München