Gruppe „Zornedinger Straße“ der Mittagsbetreuung „Ramersdorfer (B)engel“ gUG, München (Schuljahr 2018/2019)

… Natürlich hörte Rosenblau diese Schritte schon, als die Person, die da näher kam, noch weit entfernt war. Die Ohren des Mädchens waren sehr gut trainiert. Sogar während sie sich mit jemandem unterhielt, nahm sie gleichzeitig fast alle Geräusche wahr und konnte sich so orientieren. „Rußschwarzchen, da kommt jemand“, flüsterte sie ihrem Freund zu. „Eine einzelne Person, sie geht zielstrebig und relativ schnell, und besonders schwer ist sie auch nicht. Sonst müssten die Schritte anders klingen. Wir sollten uns besser verstecken. Aber nicht bei diesen Brombeeren, die sind mir nicht geheuer. Reife Brombeeren im Mai, das gibt es nicht. Die müssen giftig oder verzaubert sein. Schnell, verstecken wir uns. Siehst du, wo das gut geht?“
„Na klar!“ Rußschwarzchen freute sich. Verstecken hatten die beiden schon lange nicht mehr gespielt.
„Psst, leise! Wo?“
„Auf der anderen Seite von dem schmalen Weg, da ist ein großes Gebüsch, da geht das prima. Es sind nur ein paar Schritte, fast genau hinter dir, ein bisschen nach links.“ Für den Jungen war es völlig normal, dass er bei seiner Freundin nicht einfach in eine Richtung zeigen konnte, weil sie blind war. Er musste alles beschreiben, und zwar genau so, dass sie sich orientieren konnte. „Links“ musste natürlich auch von ihrer Position aus gemeint sein. Über solche Dinge musste er nicht lange nachdenken, auf diese Weise für sie mitzusehen war er gewohnt. Er griff auch sofort nach ihrer Hand und führte sie behutsam – wenige Augen-blicke später saßen die zwei gut versteckt hinter einem großen, dichten Fliederbusch.
Sie verhielten sich ganz still. Rußschwarzchen hatte begriffen, dass er gut beobachten musste. Und so konnte er seiner Freundin später berichten: Eine Frau war es, sie ging direkt zu dem seltsamen Brombeerstrauch. Bekleidet war sie mit einem schwarzen Mantel, ihr Gesicht war teilweise von einem schwarzen Tuch verdeckt. Vor den Brombeeren blieb sie stehen und hob einen Stab aus schwarzem Holz, dessen Ende irgendwie glitzerte. Plötzlich verschwand der Brombeer-strauch, dahinter war der Eingang einer tiefen Höhle. In diese Höhle hinein rief die Frau: „He, Räuber, ich bin wieder da. Habt ihr gut auf den Prinzen aufge-passt?“ Nachdem die Frau dann in der Höhle verschwunden war, erschienen die Brombeeren mit einem Mal wieder.
Jetzt wusste Rosenblau: Hinter diesen Zauberbrombeeren befand sich der Eingang der Räuberhöhle. Hier war offenbar auch der Prinz gefangen. Schon hatte sie einen Plan gefasst, und Rußschwarzchen war mit Feuereifer dabei. Zuerst aber wurden die beiden auf eine harte Geduldsprobe gestellt. Sie mussten nämlich warten, bis es Nacht wurde und die Räuber in der Höhle eingeschlafen waren.
Endlich war es so weit: Rußschwarzchen berichtete seiner Freundin, dass es wirklich stockfinster geworden war. In der Zwischenzeit war niemand mehr zur Räuberhöhle gekommen oder herausgegangen. Vorsichtig schlichen die beiden näher. Bald vernahm Rosenblau aus der Höhle heraus langgezogene Schnarch-geräusche – die Räuber schliefen wohl. Wie sie vermutet hatte, gab es auch einen Weg in die Höhle, ohne dass man die Brombeeren wegzaubern musste. Seitlich an dem Brombeergestrüpp entlang führte ein sehr schmaler Pfad, bei dem man sich aber in Acht nehmen musste, um sich nicht die Haut an den scharfen Dornen aufzureißen. Zu dieser Anstrengung war die Hexe zu faul gewesen, aber die beiden Jugendlichen kamen auf diesem Weg in die Höhle.
Dort schien die Finsternis sie gänzlich zu verschlucken. Das machte Rußschwarzchen gehörig Angst, nicht aber Rosenblau, denn für ihre blinden Augen war es immer stockdunkel. „Rußschwarzchen, bleib hier am Eingang als Wache. Wenn jemand kommt, pfeifst du wie ein Waldkauz, dann bin ich gewarnt. Ich schleiche mich rein – und mit etwas Glück bin ich in wenigen Minuten mit dem Prinzen zurück.
So geschah es auch. Ihre Blindheit wurde ihr sogar zum Vorteil, denn sie konnte sich dort bewegen, wo niemand etwas sehen konnte. Ihr Tastsinn und ihre trai-nierten Ohren nahmen alles wahr, was sie zur Orientierung brauchte. Die Räuber schnarchten im Hauptteil der Höhle, hoffentlich war auch die zauberkundige Hexe bei ihnen. Rechts davon hörte sie außerdem einzelne, leisere Atemgeräusche, sie schnupperte, dann musste sie lächeln. Sie hatte den Duft vom Parfum des Prinzen wiedererkannt, also hatte sie ihn gefunden. In wenigen Sekunden war sie lautlos bei ihm. Sofort tasteten ihre geschickten Finger nach den Knoten in den Stricken, mit denen er gefesselt war. Nur allmählich wurde der Prinz davon wach, aber er merkte, dass dies seine Rettung werden konnte. Als die Fesseln gelöst waren, ergriff Rosenblau die Hand des Prinzen und zog ihn langsam hinter sich her zum Ausgang. Ihr Orientierungssinn funktionierte dabei ganz anders als bei Menschen, die sehen können. Sie zählte im Stillen die Anzahl ihrer Schritte bis zur nächsten Biegung – schon hatten sie die Räuberhöhle hinter sich.
Auf die gleiche Weise ging es dann zusammen mit dem Prinzen und dem sehr erleichterten Rußschwarzchen weiter. Jeder andere hätte sich im dunklen Wald bestimmt verlaufen, sie aber hatte sich genau die Anzahl der Schritte und die Wegbiegungen gemerkt. Schließlich kamen sie zum Waldrand, von hier aus war es nicht mehr weit bis zu ihrem Dorf. „Legen wir uns ins Gras und ruhen uns ein bisschen aus“, schlug das Mädchen leise vor. „Aber im ersten Morgengrauen müssen wir weiter. Dann steht normalerweise schon der Bauer auf, der in dem einzelnen Haus dort wohnt.“ Sie zeigte exakt in die richtige Richtung. „Der kleine Hof ist noch außerhalb unseres Dorfes, deswegen war der Bauer auch nicht mit den anderen Männern unterwegs. Er melkt seine Ziegen immer sehr früh und er hat einen Ochsenkarren. Damit kann er Sie, königliche Hoheit“ – sie machte eine höfliche Verbeugung in Richtung des Prinzen – „zum Schloss ihres Vaters bringen. Rußschwarzchen und ich, wir fahren da nicht mit, das wäre unseren Eltern bestimmt nicht recht.“
Natürlich staunte der Bauer nicht schlecht, als ihm bald darauf der Prinz vorgstellt wurde, Nur zu gerne wollte er den Prinzen mit seinem Ochsenkarren zum Schloss fahren, witterte er doch die Chance auf eine große Belohnung.
Als die Sonne ganz aufgegangen war, konnte der glückliche König seinen Sohn schon wieder in die Arme schließen. Die von ihm versprochene Belohnung von eintausend Goldtalern wollte er unverzüglich dem Bauern mit dem Ochsenkarren auszahlen lassen, welcher schon erfreut seinen Hut aufhielt, um das ganze Geld damit nach Hause tragen zu können. Doch der Prinz widersprach: Nicht dem Bauern stehe die Belohnung zu, sondern einzig und allein den beiden Jugendlichen, die die Räuber überlistet hatten. „Aber warte noch, Vater“, fügte der Prinz hinzu. „Ich muss dir noch mehr sagen. Dieses schöne Mädchen Rosenblau ist zwar blind, aber es ist die einzige Frau, die ich heiraten will, das weiß mein Herz sicherer als alles andere.“ Dann erzählte er noch ausführlich von allem, was zu seiner Rettung geführt hatte.
Der kluge König dachte kurz darüber nach. Dann willigte er ein: „Ja, mein Sohn, dieser Hochzeit will ich gerne meinen Segen geben. Und Rußschwarzchen, der gute Freund deiner Braut, soll ebenfalls hier im Schloss leben. Keiner kann das Mädchen so gut unterstützen wie er. Ich ernenne ihn zu einem königlichen Hofbeamten, dessen einzige Aufgabe darin besteht, deiner zukünftigen Gemahlin zur Seite zu stehen. Als Lohn soll er immer die besten Speisen aus der Küche erhalten.“ Der König machte eine kurze Pause, dann fuhr er fort: „Jetzt sollen die Ritter sofort in diesen Räuberwald reiten und die Räuber festnehmen. Nach deiner Beschreibung werden sie die Höhle unschwer finden. Sie sollen sich beeilen, vermutlich schlafen die Räuber bis zum Vormittag, dieses faule Gesindel.“
„Aber Vorsicht!“, gab der Prinz zu bedenken. „Bei den Räubern ist auch eine Hexe, sie hat einen Zauberstab. Wer weiß, was sie damit alles zaubern kann.“
Auch dafür wusste der König eine Lösung: „Dann müssen die Ritter einen großen Spiegel mitnehmen!“
Jetzt meldete sich der Bauer zu Wort, der den Ochsenkarren gefahren hatte, und beharrte darauf, dass er die Belohnung bekommen müsse. Der König aber lächelte nur: „Selbstverständlich sollst du deinen gerechten Lohn erhalten, Bauer. Für deinen Fahrdienst sind bei dieser kurzen Strecke fünf Taler als Lohn sehr großzügig. Der Schatzmeister wird sie dir aushändigen.“ Mit diesen Worten ließ er ihn einfach stehen.
Sicher wollt ihr noch wissen, was es mit diesem Spiegel auf sich hat? Die Ritter nahmen wirklich einen großen Spiegel aus dem königlichen Spiegelsaal mit in den Wald. Bei der Räuberhöhle angekommen schlugen sie zuerst mit ihren Schwertern die Brombeeren kurz und klein, dann stürmten sie hinein. Die Räuber schnarchten noch immer, jetzt waren sie völlig überrumpelt. Nur die Hexe hob geistesgegenwärtig ihren Zauberstab und murmelte den Spruch, mit dem sie die Ritter allesamt in Schweine verwandeln wollte. Die königlichen Recken aber hielten ihr schnell den Spiegel entgegen, so wurde der Zauber vollständig auf sie zurückgeworfen. Sie selbst fiel auf alle Viere, grunzte und wühlte mit ihrer Nase im Dreck. Das tat sie auch weiterhin, während die Räuber in Ketten abge-führt wurden.
Der Prinz und Rosenblau heirateten bald und lebten glücklich im Schloss. Alle Bewohner des Bauerndorfes bewunderten das schöne Mädchen sehr. Und den Nachbarsjungen nicht minder, der als königlicher Hofbeamter nun in einem feinen Anzug durch das Schloss spazierte. Immerzu kümmerte er sich rührend um seine blinde Freundin – und der König wies den Hofbäcker an, dem Jungen so viele Weihnachtsplätzchen zu backen, wie dieser nur wollte.
So lebten alle glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Gruppe „Zornedinger Straße“ der Ramersdorfer (B)engel, München

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Gepostet am

18. November 2019

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