Hortkinder der Nordstern Kiddies, Haus f. Kinder des Kreisjugendrings München-Stadt, März 2017

…Rosenblau und Rußschwarzchen vernahmen diese Schritte und erstarrten. Wer kam da? Ob es einer der Räuber war? Konnten sie sich verstecken? Aber wo? Die blinde Rosenblau konnte ein Versteck ja nicht sehen, und ihren Freund Rußschwarzchen nach einem Versteck zu fragen, würde die Räuber erst recht auf sie aufmerksam machen. Falls da Räuber kamen… Auf jeden Fall war es besser, sich so leise wie möglich zu verhalten. „Rußschwarzchen, bleib mucksmäuschenstill,“ raunte das blinde Mädchen ihrem Freund zu.
Dann nahmen ihre trainierten Ohren wahr, wie diese Schritte immer näher kamen. Falls es ein Räuber war, muste der zumindest allein sein, das konnte sie sofort erkennen. Es waren die Schritte einer einzigen Person, und besonders schwer schien diese auch nicht zu sein. Aber sie kam direkt auf die beiden Jugendlichen zu, vermutlich waren sie längst entdeckt. Rosenblau wagte nicht zu atmen. Und Rußschwarzchen? Der konnte zwar nicht begreifen, was da vor sich ging, aber er spürte, dass seine Freundin Angst hatte. Irgendetwas schien gefährlich zu sein, und es war wohl besser, ganz still zu bleiben.
Schließlich waren diese Schritte recht nah herangekommen, nur noch wenige Meter hinter den beiden Jugendlichen hielten sie inne. „Habt keine Angst, ich tue euch nichts.“ Das war eine Frauenstimme, sehr leise. Ob auch sie von den Räubern nicht gehört werden wollte? Rosenblau konnte vor Anspannung nichts erwidern.
Nach einer kurzen Pause flüsterte die Frau hinter ihnen: „Es ist gut, dass ihr diese Brombeeren nicht gegessen habt. Die sind nämlich verzaubert. Gut, dass ihr so aufpasst. Ihr müsste hier so schnell wie möglich verschwinden, aber ganz leise. Genau hinter den Brombeersträuchern ist der Eingang zur Räuberhöhle. Wahrscheinlich haben die Räuber euch noch nicht bemerkt, kommt schnell mit.“
Rosenblau wendete sich um, ihr Gesicht mit den blinden Augen zeigte nun zu der Frau. Wer war sie nur? Rußschwarzchen tat es ihr gleich.
Die Frau machte den beiden ein Zeichen, dass sie ihr folgen sollten. Dieses Zeichen konnte das Mädchen natürlich nicht sehen, aber ihr Freund sah es, und irgendwie spürte er, dass sie mitkommen sollten. Und dass sie so wenigstens vorübergehend aus der Gefahr kämen. Also nahm er die Hand des Mädchens, denn dass sie ihn brauchte, um im Wald nicht zu stolpern, das wusste er ja. Das war ja schon immer so, darüber musste er nicht nachdenken.
Die unbekannte Frau führte die beiden nur ein kurzes Stück weiter, dann versteckten sie sich hinter ein paar dicht bei einander stehenden Bäumen, so dass man sie vom Höhleneingang bestimmt nicht sehen würde. Mit ruhigen, leise gesprochenen Worten erklärte die Frau: „Wisst ihr, ich bin auch bei den Räubern, aber ihr braucht keine Angst vor mir zu haben. Ich will euch nichts tun, ich bitte euch vielmehr, mir zu helfen. Die Räuber zwingen mich für sie zu arbeiten. Nicht nur mit normaler Arbeit, auch mit dem, was die Menschen Zauberei nennen. Ich kenne mich sehr gut mit Kräutern aus, das habe ich von meiner Großmutter gelernt. Von ihr habe ich auch ein paar Fähigkeiten geerbt, die andere Menschen nicht haben und die sie deshalb für böse und gefährlich halten.
„Aber das ist doch dumm,“ rief Rußschwarzchen dazwischen, und Rosenblau machte ihm rasch ein Zeichen, leiser zu flüstern. „Aber du kannst doch auch manches, was andere nicht können,“ raunte er ihr zu. „Zum Beispiel kannst du besser hören als die meisten. Das ist doch nicht gefährlich. Die sind aber dumm.“ Die Frau lächelte, dann erzählte sie weiter. Die meisten Menschen würden sie für eine Hexe halten, sagte sie. Auch die Räuber hätten davon gehört, und da hatten sie die Kinder der Frau entführt. „Meine zwei Goldstücke, meine Tochter und mein Sohn. Sie sind fünf und sieben Jahre alt, was sollte ich tun? Die Räuber halten sie irgendwo gefangen, wo das ist, konnte ich nicht herausfinden. Wenn ich nicht zu den Räubern helfe, wollen sie meine Kinder umbringen. Ich darf nicht einmal weit von der Räuberhöhle weggehen, die Räuber kontrollieren mich fast immer. Auch meine Zauberkräfte helfen mir nicht, denn wenn ich sie gegen die Räuber einsetze, könnten die zwar gefangen werden, aber dann würden meine Kinder bestimmt verhungern. Zum Glück haben die Räuber heute Mittag ein Wildschwein erlegt, gebraten und aufgegessen, jetzt sind sie satt und schnarchen beim Mittagsschlaf. So konnte ich mich wenigstens ein kurzes Stück aus der Höhle schleichen. Ihr beide könntet aber im ganzen Wald suchen. Meine Kinder müssen irgendwo in diesem Wald gefangen sein, denn wenn einer von den Räubern meinen Kindern Essen bringt, kommt er nach ungefähr einer Stunde wieder zurück. Bitte helft mir! Wenn meine Kinder frei sind, dann werde ich den Räubern davonlaufen und die Ritter holen, dass sie die Räuber festnehmen.“
Nach kurzer Überlegung antwortete Rosenblau: „So könnten wir auch den Prinzen befreien. Das Problem ist nur: ich bin blind, im Wald kann ich mich nur schlecht zurechtfinden.“
„Das ist mir schon aufgefallen,“ entgegnete die Frau, „und dafür brauchte ich nicht mal meine Zauberkräfte. Dein Freund führt dich ja immer an der Hand und geht besonders vorsichtig, wenn auf dem Weg ein Hindernis liegt. Außerdem hältst du meist den Kopf etwas schief, so dass du die Richtung von Geräuschen leichter wahrnehmen kannst.“ Dann fuhr sie fort: „Aber weißt du, ihr beide habt es zusammen bis hierher geschafft. Ihr werdet es auch schaffen, meine Kinder zu finden. Bitte, helft ihnen!“
Natürlich konnten Rosenblau und Rußschwarzchen diese Bitte nicht abschlagen. Ohne zu zögern machten sie sich wieder auf den Weg und suchten im Wald nach irgendwelchen Hinweisen auf den Ort, an dem die Kinder der „Hexe“ gefangen waren. Rosenblaus Gehirn arbeitete dabei fieberhaft: Während sie versuchte, jedes noch so leise Geräusch wahrzunehmen, prägte sie sich auch noch jeden Weg ein, den sie zurücklegten. Wie sie das machte? Sie setzte ihre Schritte ganz gleichmäßig und zählte diese mit, immer von einer Abbiegung bis zur nächsten. Auf diese Weise entstand in ihrem Kopf eine ganz spezielle „Landkarte“ des Waldes.
Als es schon fast Abend wurde, vernahmen ihre Ohren pötzlich Hilferufe. Dumpf klangen sie, wie aus einer tiefen Höhle heraus. Und es waren zwei Kinderstimmen. Die Höhle, in der die Kinder der Zauberin gefangen waren, konnte nicht weit sein. Aber wie sollten sie diese befreien?
Da erlauschte das Mädchen noch ein anderes Geräusch: das langsame Hufgetrappel von Pferden. Schwere Pferde, es mussten Reiter darauf sitzen, und leise hörte man auch Eisenklirren. Bei den Räubern hatte sie keine Pferde gehört oder gerochen, und das metallische Klirren konnte eigentlich nur von Schwertern, eisenbeschlagenen Schilden oder Rüstungen stammen. Da kamen Ritter!
Der Rest der Geschichte ist rasch erzählt: Hier näherten sich wirklich die königlichen Ritter, die sich natürlich auf den Weg gemacht hatten, den Prinzen zu retten. Rosenblau wartete mit Rußschwarzchen, bis die Ritter bei ihnen angekommen waren, dann erzählte sie alles. Und die Ritter fackelten nicht lange: in wenigen Augenblicken waren die Kinder der Zauberin befreit. Anschließend führte Rosenblau die Ritter zur Räuberhöhle (wobei die zwei Jugendlichen sogar auf den Pferden mitreiten durften, so dass sich ihre Füße ein wenig ausruhen konnten).
Bald waren alle Räuber von der Übermacht der gut bewaffneten Ritter gefangen, und der Prinz war frei. Als dieser schließich erfuhr, wem er seine Rettung hauptsächlich zu verdanken hatte, und noch dazu das schöne Mädchen Rosenblau wiedererkannte, fiel er sogleich auf seine Knie und bat sie: „Willst du meine Prinzessin werden?“
Rosenblau lächelte leise, dann antwortete sie zögernd: „Köngliche Hoheit, Ihre Frage ist eine unbeschreibliche Ehre für mich. Doch muss ich sie verneinen. Mein Freund Rußschwarzchen ist derjenige, der immer treu zu mir gehalten hat, auf den ich mich immer verlassen konnte. Und mehr noch: auf seine Weise ist er klüger und vor allem liebevoller als alle Menschen, die ich kenne. In meinem Herzen hat er den größten Platz, mit ihm an meiner Seite will ich durch das Leben gehen.“
„Und dass ich dich lieb habe, ist sowieso klar,“ fügte Rußschwarzchen ganz schlicht hinzu.
Der Prinz blickte die beiden an, dann räusperte er sich und meinte: „Vor dieser Liebe würde ich meinen Hut ziehen, wenn mir den die Räuber nicht weg- genommen hätten.“
„Und die Belohnung? Die tausend Goldtaler, die der König versprochen hat?“, fragte einer der Ritter, die neben ihm standen.
„Bitte betrachtet dies als das Hochzeitsgeschenk, das euch mindestens zusteht,“ sagte der Prinz zu Rosenblau und Rußschwarzchen, die sich wie meist an den Händen hielten.
„Darf ich auch noch etwas sagen?“ Sehr leise meldete sich die Frau zu Wort, die immer als Hexe verschrien war und deren Kinder sich nun glücklich an sie schmiegten. „Ich habe euch ja erzählt, dass ich mich sehr gut mit Kräutern auskenne,“ fuhr sie fort. „Heilen kann ich die Krankheit von Rosenblaus Augen und das Durcheinander in Rußschwarzchens Kopf nicht. Aber ich kenne Kräuter, mit Hilfe derer es euch besser gehen wird.“
Und wirklich: Wenige Wochen später heirateten Rosenblau und Rußschwarzchen. Die Kräutertränke der Zauberin halfen den beiden, so dass Rosenblau nun ganz schemenhafte Umrisse erkennen konnte, wie durch dichten Nebel hindurch. Und Rußschwarzchen musste sich beim Denken nicht mehr gar so anstrengen. Da die beiden auch noch die tausend Goldtaler bekamen, konnten sie glücklich und ohne Sorgen im Dorf leben. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann werden sie dort auch heute noch als Helden gefeiert.

© Bertram der Wanderer und die Hortkinder der „Nordstern Kiddies“

Fähigkeiten

Gepostet am

18. November 2019

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