… Zum Glück waren die Ohren des Mädchens viel besser trainiert als die der meisten Menschen, weil sie sich ja hauptsächlich mit ihrem Gehör orientierte. Deshalb vernahm sie diese langsamen, schlurfenden Schritte auch schon, als sie noch sehr weit entfernt waren. „Rußschwarzchen, da kommt jemand“, flüsterte sie, „schnell, wo können wir uns verstecken?“
„Hier ist doch gleich der Brombeerstrauch“, antwortete ihr Freund. „Daneben können wir uns gut auf den Boden hocken. Die Blätter sind dicht, da sieht uns keiner.“
„Dann hilf mir bitte.“ Rosenblau war sich nicht sicher, ob dies wirklich ein gutes Versteck war, aber es bieb nicht viel Zeit. Sie konnte ja nicht ahnen, wer da kam. Ob es ein Räuber war? Ein Jäger? Jemand aus dem Dorf? Sie konnte nur heraushören, dass es ein einzelner Mensch war, er setzte die Schritte eher langsam und schwerfällig, vermutlich war die Person schon alt, denn ein junger Mensch geht meist leichtfüßiger. Zum Glück war der Wald hier recht dicht, man hatte sie wahrscheinlich noch nicht gesehen. Auch wenn sich Rosenblau gar nicht vorstellen konnte, wie das Sehen ist, weil sie doch von Geburt an blind war. Aber sie hatte erfahren, dass Menschen sie manchmal schon aus der Entfernung gesehen hatten, aber nicht, wenn sich Hindernisse dazwischen befanden. Durch solche Hindernisse konnte man zwar jemanden hören, wenn auch gedämpft oder verzerrt, aber meist nicht sehen.
Noch während ihr all diese Gedanken durch den Kopf schossen, führte sie ihr Freund behutsam seitlich an dem Brombeerbusch vorbei, dann drückte er sie sanft nach unten in die Hocke. Sie vertraute ihm, wie sie das schon immer tat, denn sie wusste, dass er es stets gut mit ihr meinte. Auch wenn die Gedanken in seinem Kopf meist nur zäh und langsam vorwärts kamen, auch wenn er sich vieles nicht merken konnte – er hatte ein so gutes Herz, fürsorglicher als das von allen Menschen, die sie bisher kennen gelernt hatte. Auch jetzt, als er sie an den Brombeeren entlang führte, achtete er immer darauf, dass sie keiner der Brombeerdornen zu nahe kam, manchmal legte er sogar seine eigene Hand schützend über die ihre.
Die Schritte kamen langsam näher, Rosenblau und Rußschwarzchen sprachen kein Wort, um sich nicht zu verraten. Jetzt musste der Unbekannte direkt vor den Brombeeren stehen, das Mädchen wagte kaum zu atmen. Plötzlich hörte sie über ihrem Kopf leise Geräusche, wie wenn jemand etwas von einem Strauch abreißt, dann ein Schmatzen. „Rußschwarzchen!“, zischte sie, „um Gottes Willen, du darfst diese Brombeeren nicht essen. Im Mai gibt es keine Brombeeren. Die müssen giftig oder verzaubert…“
Weiter kam sie nicht mehr, denn in diesem Moment fiel ihr Freund der Länge nach an ihr vorbei, aus dem Brombeerstrauch hinaus, auf die Erde. Er hatte den verlockenden Früchten einfach nicht widerstehen können, nun lag er da. An seinen gleichmäßigen Atemzügen erkannte sie aber, dass er gottlob lebte, offenbar schlief er.
„Ja, was ist denn das?“, hörte sie die Stimme eines alten Mannes von der anderen Seite der Brombeerzweige. Ihn musste sie gehört haben. „Junge, was ist mit dir?“ Der Mann war mit wenigen Schritten halbwegs hinter das Gestrüpp getreten und begann, den neben ihr liegenden Rußschwarzchen zu rütteln. „Oho, da ist ja noch jemand. Mädchen, was tut ihr hier? Lebt ihr in dieser Höhle da, hinter den Brombeerbüschen?“
„Was, da ist eine Höhle?“, fragte Rosenblau, die das natürlich nicht sehen konnte. „Wissen Sie, ich bin blind, ich kann nichts sehen. Aber wenn da eine Höhle ist, verdeckt von diesen giftigen Brombeeren, dann kann das nur die Räuberhöhle sein. Die suchen wir eigentlich. Aber die Räuber dürfen uns nicht entdecken.“
Nur den Bruchteil einer Sekunde hielt der alte Mann inne, dann wusste er, was zu tun war. „Kannst du gehen, wenn ich dir den Weg zeige?“, erkundigte er sich bei dem Mädchen, die mit einem Kopfnicken antwortete. Er fuhr fort: „Dann tragen wir deinen Freund erst einmal von hier weg, damit wir in Sicherheit sind. Ich nehme seine Arme und gehe voraus. Wenn du die Füße nimmst, kannst du hoffentlich spüren, wohin ich vorausgehe. Ich mache alles möglichst langsam, damit du nicht stolperst.“
Genauso verfuhren sie wirklich. Wenige Minuten später hatten die beiden gemeinsam den schlafenden Jungen auf dem Weg, auf dem sie gekommen waren, ein Stück weit getragen. Hier standen ein paar große Bäume dicht neben einander, dahinter konnten sie sich gut verstecken. Und sie waren weit genug von der Räuberhöhle entfernt, dass man sie dort bestimmt nicht würde hören können. Aber es konnte auch sein, dass die Räuber gar nicht da waren, dann könnten sie zurückkommen. Während Rosenblau mit dem alten Mann sprach, lauschte sie gleichzeitig in den Wald hinein, um jedes verdächtige Geräusch wahrzunehmen.
Der Mann erzählte ihr, dass er aus einem anderen Dorf hier in der Nähe stammte. Aber er hatte dort Essen gestohlen, weil er so arm war. Die Dorfbewohner hatten ihn zur Strafe aus ihrem Dorf verbannt, deshalb musste er im Wald leben, wo er sich aus Tannenzweigen einen Unterschlupf gebaut hatte. Außerdem kannte er sich sehr gut mit Heilkräutern aus, bestimmt würde er mit einem besonderen Kräutertrank den noch immer schlafenden Jungen bald aufwecken können. Den Trank musste er aber aus seinem Unterschlupf holen.
Von dem Mädchen erfuhr er daraufhin alles, was sie über die Räuber, den gefangenen Prinzen und die Belohnung wusste. Und da beschlossen die beiden, Rußschwarzchen noch ein bisschen schlafen zu lassen und erst den Prinzen zu befreien. Bald hatten sie einen guten Plan geschmiedet, den sie auch sofort in die Tat umsetzten.
Zuerst kroch das blinde Mädchen auf allen Vieren vorsichtig wieder in die Nähe der Räuberhöhle und versteckte sich in einem großen Gebüsch den Brombeeren gegenüber. Dann zog sie ihre Schuhe aus und klatschte damit mehr als fünfzig Mal auf den Waldboden, das hörte sich wie laute, patschende Schritte an. Dazu rief sie mit immer wieder anders verstellter Stimme Befehle wie „Du da, geh mal auf die andere Seite vom Eingang!“, „Dort drüben sollen auch vier Mann stehen.“, „Die Verstärkung wird bald da sein.“ und „Gleich haben wir die Räuber.“ Diese sollten nämlich Angst bekommen.
Die List klappte. Rosenblaus Schreie drangen wirklich bis in die Tiefe der Höhle, die Räuber erschraken und suchten ihr Heil in der Flucht. Hals über Kopf rannten alle Räuber aus der Höhle, und mit ihnen auch die Hexe, die bei ihnen lebte und die Brombeeren verzaubert hatte.
Als der alte Mann vermutete, dass die Höhle leer war, schlich er hinein, fand dort den gefesselten Prinzen, befreite ihn und brachte ihn hinaus. Der dankte seinen Rettern überschwänglich, dann wollten alle auf schnellstem Weg zum Schloss. Zuvor aber holte der kluge Alte seinen Kräutertrank, mit dem er Rußschwarzchen aufwecken konnte. Dieser zeigte sich arg enttäuscht, dass er die Befreiung des Prinzen verschlafen hatte.
Noch bevor sie zum Schloss aufbrachen, fiel der Prinz plötzlich vor Rosenblau auf die Knie und bat sie: „Jetzt erst erkenne ich dich: du bist das schönste Mädchen aus dem Dorf! Dich will ich heiraten. Willst du meine Prinzessin werden?“
Rosenblau errötete, sie war sehr verlegen. Kurz musste sie überlegen, doch dann sprach sie: „Königliche Hoheit, ich danke Ihnen sehr für diese Ehre. Aber mein Herz gehört längst Rußschwarzchen, der mich auf seine Weise mehr liebt, als das ein anderer je könnte. Bitte verzeihen Sie, aber ich kann sie nicht heiraten.“
„Natürlich liebe ich dich“, platze der Junge heraus, „Das ist doch sowieso klar. So klar wie Kloßbrühe!“ Dann lachte er schallend, weil ihm dieser lustige Vergleich eingefallen war.
Der Prinz war wie vom Donner gerührt, mit einer solchen Antwort hätte er nie gerechnet. Aber er fasste sich und meinte: „Ich sehe es ein, eure Liebe ist nicht auf der Erde, sondern im Himmel beschlossen. Das respektiere ich. Ich werde zu meinem Vater ins Schloss gehen, aber ich werde ihm sagen, dass ihr mich befreit habt. Bestimmt wird er euch belohnen.“
So kam es auch. Zuerst schickte der Prinz seine Ritter in den Wald, um die Räuber endgültig zu vertreiben. Die Hexe festzunehmen wagten sie nicht, weil niemand wusste, wie viele Zauberkräfte sie besaß. Aber die Räuber hatten vor den Rittern genügend Angst, dass sie in alle Richtungen davonliefen und nie mehr in diese Gegend zurückkamen.
Die Belohnung von 1000 Goldtalern, die der König versprochen hatte, bekamen Rußschwarzchen, Rosenblau und der alte Mann, die das Geld gerecht unter sich aufteilten. Da man 1000 aber nicht gut durch 3 teilen kann, blieb ein Taler übrig, und von dem bezahlte der Alte seine Schuld, die er durch den Diebstahl in seinem früheren Dorf auf sich geladen hatte. Mehr als 1 Goldtaler war das gestohlene Essen sicher nicht wert.
Dann zogen die drei Retter in das Heimatdorf der beiden Jugendlichen, wo sie von den Dorfbewohnern als Helden gefeiert wurden. Der alte Mann kannte so viele Heilkräuter, dass er damit sogar die Blindheit des Mädchens heilen konnte. Und auch der Junge bekam Kräutertränke, durch die ihm das Denken viel leichter als zuvor fiel. Zum Glück änderte das nichts an seinem guten Herzen, das konnte er sich bewahren. Als die Bewohner des Dorfes diese Fähigkeiten des alten Mannes bemerkten, durfte er von allen hochgeachtet bei ihnen leben.
Rosenblau und Rußschwarzchen heirateten bald und lebten unsagbar glücklich mit einander. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann sind sie das noch heute.
© 2018 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 3d der Grundschule Amphionpark, München