Klasse 3b der Grundschule an der Keilberthstraße, München (Schuljahr 2019/2020)

… Die Schritte, die sich hier näherten, waren sehr leise. Offenbar versuchten mehrere Menschen sich anzuschleichen, denn nur gelegentlich war das leichte Knacken einen Ästchens, das vorsichtige Aufsetzen eines Stiefels zu vernehmen. Außerdem kamen die Geräusche aus verschiedenen Richtungen, ein Umstand, der den Eindruck noch verstärkte, dass es nur zufällig hier und da raschelte oder knackte. Deshalb war es sogar für die gut trainierten Ohren des blinden Mädchens ziemlich schwierig, die langsam näher kommenden Geräusche als Schritte zu erkennen. „Pssst, Rußschwarzchen, da kommt jemand. Mehrere Leute aus verschiedenen Richtungen. Ich glaube, dass sie sich anschleichen. Abhauen können wir wahrscheinlich nicht mehr, bestimmt haben sie uns schon gesehen. Dreh dich mal vorsichtig um, vielleicht siehst du sie…“
Rosenblau hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da brüllte schon eine Stimme ein ganzes Stück links hinter dem Mädchen: „Los, Männer, schnappt sie euch!“ Eine Frauenstimme war das, anscheinend war sie das Befehlen gewohnt. Vielleicht die Anführerin der Räuberbande?
Bei den ersten Worten war Rußschwarzchen vor Schreck kurz zusammengezuckt, dann stotterte er: „D..dd..das sind die Räuber. Bestimmt! So schauen R… Räuber aus. Die www…wollen uns fressen. Schnell verstecken!“ Schon spürte das Mädchen eine wieselflinke Bewegung neben sich, ein Rascheln, das sich schnell entfernte, während gleichzeitig von hinten her aus mehreren Richtungen schwere Schritte herbeieilten. Dann wurde sie mit hartem Griff gepackt und nach hinten gerissen. „Vorsicht, ich bin blind!“, rief sie rasch, denn sie wusste aus Erfahrung, dass andere ihr dies nicht gleich amerkten und daher auch keine Rücksicht auf ihre Behinderung nahmen.
„Das hab ich mir gedacht“, erwiderte die barsche Frauenstimme. „Sie hat sich so langsam und tastend vorwärts bewegt. Gut, dass wir ihre Stimmen in unserer Höhle längst gehört haben. So ein Höhlensystem mit vielen Gängen ist praktisch, wir konnten beim Hinterausgang hinaus und uns von rückwärts anschleichen. Lang genug haben wir die zwei beobachtet. Jetzt sperren wir sie ein.“
„Ja, Hexe, die eine haben wir“, knurrte der Mann rechts von Rosenblau, der ihre Handgelenke mit eisernem Griff umklammert hielt. „Aber was ist mit dem anderen? Der ist schnell ins Unterholz gekrochen, von ihm seh ich keine Spur.“
‚Zum Glück!‘, schoss es dem Mädchen durch den Kopf. ‚Rußschwarzchen ist ihnen entkommen, vielleicht kann er Hilfe holen. Gut, dass er schon immer gern Verstecken gespielt hat. Wie oft hat er sich vor seinen Eltern versteckt, wenn er sich drücken wollte, den Hühnerstall auszumisten. Auch die haben ihn nie gefunden. Aber warum nannte der Räuber diese Frau eine Hexe? Ob sie wirklich eine Hexe ist?‘
„Sollen wir ihn verfolgen?“, brummte ein anderer Räuber, aber die Hexe kicherte nur böse: „Nein, das können wir uns sparen. Habt ihr es vorhin nicht bemerkt, als wir die zwei da beobachtet haben? Der junge Kerl ist blöde im Kopf, die Blinde hat ihm immer gesagt, was er tun soll. Er ist harmlos, bestimmt hat er schon vergessen, was er gesehen hat. Aber sie ist gefährlich. Sie müssen wir einsperren.“
„Ob wir für sie auch Lösegeld kriegen?“, meinte ein dritter Räuber, aber die Hexe winkte ab: „Neee, die ist arm. Schau sie dir doch an! Die alten, zerrissenen Kleider. Für die zahlt niemand was. Die sperren wir ein, und dann lassen wir sie langsam verhungern, das kostet uns nichts.“ Die Räuber stimmten ihr mit höhnischem Gelächter zu.
Als Rosenblau dies hörte, fuhr ihr eine furchtbare Angst in die Glieder. Zugleich aber begann sie zu hoffen: Die Räuber wollten ihr nicht sofort etwas antun, vielleicht reichte die Zeit, bis Rußschwarzchen Hilfe holen konnte. Auf ihn setzte sie nun alle Zuversicht, denn auch wenn er sich mit dem Denken sehr schwer tat, spürte er oft instinktiv, was zu tun war. Und manchmal kam er auf ungewöhnliche Ideen…
Die Räuber zerrten Rosenblau nun auf einem schmalen Weg seitlich hinter die Brombeerbüsche und stießen sie dann in eine Höhle hinein, deren Eingang wohl von dem dornigen Gestrüpp verborgen war. Dass es eine Höhle sein musste, erkannte das blinde Mädchen an dem muffigen Geruch, der sie hier umfing, und am dumpferen Klang der Geräusche
Inzwischen war der Kopf des Jungen wirklich schon dabei, nach einer ungewöhnlichen Lösung zu suchen. Zunächst hatte er sich so gut im Unterholz verkrochen, dass ihn die Räber nicht sehen konnten. Vor Wut zitternd beobachtete er die schwarz gekleideten Unholde, die seine Freundin umklammert hielten. Dass er anfangs vor Schreck wie gelähmt war, hinderte ihn zum Glück daran, sich versehentlich bemerkbar zu machen. In seinem Kopf arbeitete sich nun ein Gedanke wie durch eine zähe, klebrige Masse nach vorne: Diese Mistkerle! Büßen sollten sie das! Umbringen wollte er sie, das war es, was die verdienen! Aber wie? Da fiel ihm ein, dass Rosenblau doch vor den giftigen Brombeeren gewarnt hatte, denn normale Brombeeren konnte es im Mai ja nicht geben. Gift, genau, vergiften musste man diese gemeinen Räuber!
Schon schlich er sich wieder zu dem Brombeergestrüpp, hinter dem, wie er nun wusste, der Eingang zur Verbrecherhöhle versteckt war. Mit der linken Hand raffte er sein weites, langes Hemd wie einen Beutel vor dem Bauch zusammen, mit der rechten Hand pflückte er Beeren hinein, wobei er streng darauf achtete, keinen Beerensaft in den Mund zu bekommen. Rasch hatte er einen ansehnlichen Haufen Beeren gepflückt. Die legte er unweit des Höhleneingangs mitten auf den Weg. Wie sollte er jetzt die Räuber dazu bringen, die Beeren zu essen? Da erinnerte er sich an das, was er oft beobachtet hatte, wenn eines von den Kindern im Dorf einen Apfel oder ein paar Pflaumen bekommen hatte: die anderen beneideten es.
Nur Sekunden später kauerte Rußschwarzchen gut versteckt hinter einem großen Baum. Von dort aus brüllte er in Richtung des Höhleneingangs: „Hmmm, diese Brombeeren schmecken gut. Ganz süß! Aaah, die da ist ja noch besser. Und sie alle gehören mir!“ Dabei bemühte er sich, seiner Stimme einen genießerischen Unterton zu geben.
Und sein Trick klappte: ein Räuber hörte bald das lockende Geschrei, das der Junge auch noch mit lauten Schmatzgeräuschen untermalte. „Da muss es leckere Brombeeren geben!“, entfuhr es dem Unhold. „Die hol ich mir!“
„Wir auch!“, kreischten seine Kumpane. Die gierigen Kerle stürzten aus der Höhle, wobei jeder versuchte sich nach vorne zu drängeln. Jeder wollte mehr von den Brombeeren ergattern als die anderen. In ihrer Gier verschwendeten sie natürlich keinen Gedanken an die Frage, woher dieser Brombeerschatz so plötzlich gekommen war. Sobald ein Räuber jedoch drei der Beeren verschlungen hatte, fiel er zu Boden und schnarchte laut vor sich hin. Durch ihre eigenen Zauberbrombeeren waren bald alle Räuber eingeschlafen und lagen in einem wirren Haufen kreuz und quer über einander.
Nur die Hexe war noch wach. Sie vermutete zwar, dass diese Brombeeren eine Falle sein mussten, hatte sie doch selbst solche Früchte vor ihren Höhleneingang gezaubert. Sie schimpfte, zeterte und brüllte, aber keiner der Räuber achtete auf sie.
Endlich trat eine schmale, in einen schwarzen Mantel gekleidete Gestalt mit schwarzem Tuch vor dem Gesicht in die Höhle. „Sag mal, was fällt euch ein?!? Ihr sollt gefälligst hierbleiben!“, herrschte die Hexe ihn an.
Eine Stimme, bei der Rosenblau beinahe gejubelt hätte, als sie sie sofort erkannte, erwiderte: „Schnell, Hexe, wir müssen fliehen. Draußen sind die Ritter!“ Wie Rußschwarzchen auf diesen genialen Einfall gekommen war, sich mit den Sachen eines Räubers zu verkleiden, hätte er selbst nicht erklären können. Aber seine List glückte: Hals über Kopf rannte die Hexe aus der Höhle, die quer über einander liegenden und schnarchenden Räuber beachtete sie gar nicht. Sie suchte ihr Heil in der Flucht, wobei sie sich um ihre Helfer nicht im geringsten scherte. Um nur ja kein Risiko einzugehen, rannte sie immer weiter – im ganzen Land hat man sie seither nie wieder gesehen.
Der Junge hingegen war mit schnellen Schritten bei seiner Freundin, die gefesselt auf dem Höhlenboden lag. Mit wenigen Handgriffen konnte er sie befreien, und auch der Prinz musste nicht mehr lange darauf warten, dass die Fesseln gelöst wurden. Überschwänglich bedankte sich dieser bei seinen Rettern, noch mehr noch, als er in Rosenblau das wunderschöne Mädchen erkannte, das ihm tags zuvor schon im Dorf aufgefallen war. Sollte er trotz ihrer Blindheit um ihre Hand anhalten? Noch zögerte er, aber als ihm auffiel, welch enges, freundschaftliches Band sich von jeher zwischen den beiden Nachbarskindern geknüpft hatte, verzichtete er darauf, dieses Band zu stören. Auf schnellstem Weg eilte er zum Königsschloss, was ihm durch den Umstand erleichtert wurde, dass er sich gemerkt hatte, wo die Räuber sein Pferd versteckt hatten. Vom Schloss aus schickte er die königlichen Ritter in den Wald, die die noch immer schlafenden Räuber unschwer festnehmen konten.
Da der König des Landes ein gerechter König war, gab es keinen Zweifel, wem die Belohnung zufallen sollte. Rosenblau und Rußschwarzchen erhielten die versprochenen eintausend Goldtaler, wodurch die beiden jetzt die reichsten Bewohner des Dorfes wurden. Und wenn eine Bauernfamilie in Not geraten war, teilten sie gern. Ihr Leben konnten die beiden mit diesem Geld glücklich und zufrieden verbringen, wobei das blinde Mädchen sorgsam darauf achtete, dass ihr Freund nur hin und wieder seine geliebten Weihnachtsplätzchen kaufte. Von allen Leuten im Dorf wurden sie nun als Helden gefeiert und nie mehr ausgelacht oder verachtet.
Ja, und wenn die zwei Freunde nicht gestorben sind, dann schätzt und verehrt man sie noch heute im ganzen Land.

© 2019 Bertram der Wanderer und die Kinder der Klasse 3b der Grundschule an der Keilberthstraße, München

Fähigkeiten

Gepostet am

18. November 2019

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