Klasse 2a der Grundschule an der St.-Konrad-Straße, Haar (Schuljahr 2019/2020)

… Mit ihren gut trainierten Ohren vernahm das blinde Mädchen die Schritte schon, als sie noch recht weit entfernt waren. „Schscht!“, machte sie kurz. Rußschwarzchen verstand sofort und erstarrte, während Rosenblau angestrengt lauschte. Dann flüsterte sie: „Da kommt jemand. Mehrere Leute, vielleicht drei oder vier, sie haben wohl schwere Stiefel an und gehen schnell. Sie kommen näher, das höre ich. Vielleicht sind es Räuber. Wir sollten uns verstecken. Siehst du ein gutes Versteck?“
Ihr Freund blickte sich kurz um, dann antwortete er ebenso leise: „Auf der anderen Seite von dem Weg, auf dem wir hergekommen sind, da ist ein großer Stein, ein riesiger Fels. Dahinter können wir uns gut verstecken.“ Ohne zu zögern ergriff er wieder ihre Hand und zog sie behutsam in die Richtung, die er gemeint hatte. Mit Verstecken kannte er sich aus, das Versteckspiel mochte er gerne. Als er und seine blinde Freundin noch jünger waren, hatten sie dieses Spiel oft gemeinsam im Garten gespielt. Für Rosenblau war es eine gute Übung: Da sie sich ja nicht einmal vorstellen konnte, was „sichtbar sein“ bedeutete, lernte sie bei diesem Spiel, wann sie von anderen gesehen wurde und wann nicht. Im Garten der Eltern hätte sie ziemlich gut gewusst, wie weit sie hinter etwas kriechen musste, um nicht gesehen werden zu können. Aber hier? Sie gab sich größte Mühe, so weit wie möglich hinter dem Felsen zu verschwinden – aber leider doch nicht weit genug. Ein Fuß lugte noch hervor, und den erblickten die Männer, die jetzt schon sehr nahe herangekommen waren.
Sogleich schrie eine Männerstimme: „Räuber, wartet mal! Schaut mal da rüber, da ist jemand. Ich sehe einen Mädchenfuß.“ Dann brüllte er in ihre Richtung: „He, was machst du da? Wer bist du?“
Roenblau wäre ‚das Herz in die Hose gerutscht‘, wie man so sagt, wenn sie eine Hose angehabt hätte, aber sie trug ja wie immer ein altes, oft geflicktes Kleid und war barfuß, weil die Eltern sich keine Schuhe für das Sommerhalbjahr leisten konnten. Sie spürte, wie Rußschwarzchen neben ihr vor Schreck zusammenzuckte, aber sie reagierte blitzschnell. Geschickt erhob sie sich auf die Beine und machte vorsichtig ein paar Schritte auf diese Räuber zu, wobei sie die Hände hob, zum Zeichen, dass sie unbewaffnet war. „Ich bin blind, ich kann nicht sehen“. Rief sie sofort den Männern entgegen, denn aus Erfahrung wusste sie, dass man ihr das sonst nicht gleich anmerkte, und dass dann niemand auf sie Rücksicht nahm.
„Ein blindes Mädchen? Was willst du? Wie kommst du hierher?“, wurde sie angeherrscht.
Wie Blitze schossen die Gedanken durch ihren Kopf. Hoffentlich konnte sie ein bisschen Mitleid bei den Räubern erregen, dann würden sie ihr vielleicht nichts tun. Noch mehr hoffte sie, dass ihr Freund sich absolut still verhielt. Ihre einzige Chance war es, so dachte sie, dass sie sich den Räubern ergab und diese glauben machen konnte, dass sie allein im Wald war. Dann würde Rußschwarzchen vielleicht nicht entdeckt – und könnte später Hilfe holen. Schon hatte sie ihren Plan weit genug überlegt, sodass sie den Räubern antworten konnte. „Ach, ich bin bettelarm“, begann sie zu jammern, „ich habe nichts zu essen. Der Winter war lang und jetzt im Frühling wächst ja noch nicht viel. Ein paar Blätter Sauerklee suche ich, die könnte es schon geben, dann hätte ich endlich mal wieder etwas zwischen den Zähnen. Ich versuchte, hier Sauerklee zu ertasten, denn sehen kann ich den ja nicht. Und Bärlauch wächst hier nicht, den würde ich riechen…“
Anscheinend glaubten ihr die Räuber diese Geschichte, denn einer brummte: „Sauerklee wächst hier nicht. Und wenn, dann hätten wir den schon aufgegessen.“
Ein anderer meinte: „Was machen wir mit ihr? Sollen wir sie laufen lassen? Die ist blind, die kann uns nicht verraten. Und arm, wie sie ist, können wir ihr nichts stehlen…“
Eine dritte Stimme machte einen anderen Vorschlag: „Ich weiß was Besseres: sie kann doch für uns arbeiten, als Dienerin. Putzen zum Beispiel, das hätte unsere Höhle dringend nötig. Eine blinde Putzfrau ist genial, die kann uns nicht so leicht weglaufen. Und verraten kann sie uns auch nicht.“
Alle Räuber brummten zustimmend. Rosenblau wurde grob an der Hand gepackt und von dem Felsen weg genau in die Richtung gezogen, in der dieser seltsame Brombeerbusch war. Sie hörte noch, wie einer der Räuber murmelte: „Aber entscheiden muss das unser Anführer. Und unsere Hexe fragen wir auch, die ist klug, die weiß viel.“ Währenddessen versuchte sie, mit den Räubern Schritt zu halten, wobei sie immer wieder ein bisschen strauchelte. Bei dem Gestrüpp angekommen bog einer der Räuber die Brombeerzweige zur Seite und zog das Mädchen in die Hocke: „Hier müssen wir durchkriechen, dahinter ist unere Höhle. Aber vorsichtig, Mädchen, die Brombeeren haben spitze Dornen.“
„Verletz dich nicht!“, brummte ein anderer, „du sollst ja für uns arbeiten.“
Auf allen Vieren kroch Rosenblau weiter, daher fühlte sie auch rasch, dass der rauhe Erdboden hinter den Brombeeren zu hartem Gestein wurde, sehr kühl und leicht feucht, das musste die Höhle sein, von der die Räuber gesprochen hatten. Vor Angst klopfte dem Mädchen das Herz bis zum Hals, aber sie zwang sich, möglichst ruhig zu bleiben und erst einmal die Rolle der Dienerin zu spielen. Vielleicht würde sie eine Gelegenheit finden, den Prinzen zu befreien, falls dieser hier gefangen war.
Darüber sollte sie sogar bald etwas erfahren. Der Anfüher der Räuber war nicht nur einverstanden, er freute sich sogar. „Eine Dienerin, das ist eine gute Idee. Wir haben zwar die Hexe, aber die kennt keinen Putzzauber. Und kochen kann sie auch nicht besonders. Das Mädel soll gleich anfangen. Erst einmal soll sie unsere Höhle putzen, gebt ihr einen Eimer und Lumpen. Und für abends soll sie uns eine Suppe kochen. Zeigt ihr die paar Wurzeln, die wir noch haben, und gebt ihr ein Küchenmesser. Aber nur ein kleines, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommt.“
Eine Frauenstimme, die von den Räubern um ihre Meinung gefragt wurde, erhob keine Einwände, sie schien froh, nicht mehr selber putzen zu müssen. Sogleich fing Rosenblau, die kaum gesprochen hatte, um auch das kleinste Geräusch hören zu können, mit ihrer neuen Arbeit an. Der Boden der Höhle war wirklich sehr schmutzig, das fühlten ihre Hände deutlich, als sie versuchte, Meter für Meter der Höhle zu säubern. In manchen Ecken stank es ziemlich, aber durch diesen Gestank zog an einer bestimmten Stelle noch ein ganz anderer, ein wunderbarer Duft wie ein zarter unsichtbarer Faden. Sie kannte diesen Duft: hier irgendwo musste der Prinz sein, der ja ein ganz besonderes, teueres Parfum verwendete. Langsam arbeitete sie sich in diese Richtung, der Parfumduft wurde stärker. Hatte sie den Prinzen gefunden?
Schon schmiedete sie einen Plan: sie wollte versuchen, die Rolle der Dienerin bis zur Nacht weiter zu spielen. Wenn dann die Räuber schliefen, könnte sie vielleicht den Prinzen befreien, der vermutlich hier in dieser Ecke der Höhle gefesselt und geknebelt war. Denn sie hatte aus dieser Richtung auch einmal leise und leicht würgende Atemgeräusche und eine Bewegung gehört, wie wenn sich jemand auf dem Boden liegend in eine andere Position zu rücken versuchte. Wenn nur Rußschwarzchen den Plan nicht durchkreuzte! Sollte der liebe Junge aus Angst um seine Freundin einen Alleingang versuchen und in die Höhle stürmen, dann wäre alles aus!
Aber das Mädchen hatte Glück: Rußschwarzchen war völlig verwirrt und verängstigt. Er hatte hinter dem Felsen versteckt gesehen, wie die Räuber seine einzige Freundin mitrissen. Natürlich wollte er ihr helfen, aber der dicke, zähe Nebel in seinem Kopf ließ keine Idee nach vorne. Wie durch dicken Brei mühten sich verschiedenste Gedanken in seinem Kopf, kamen aber nicht weiter und verliefen sich gänzlich. Zurück ins Dorf laufen wollte er auch nicht, musste er doch bei seiner lieben Rosenblau bleiben. Zumindest in ihrer Nähe. Wie gelähmt blieb er sitzen und wartete. Auch als es schon längst dunkel wurde, saß er immer noch da und starrte in die Richtung der Brombeeren.
Rosenblau wurde inzwischen der Putzlappen weggenommen, man gab ihr einen Korb mit mehreren, erdigen Knollen und ein kleines Küchenmesser, damit sie sich um das Abendessen kümmern konnte. Rüben und Wurzeln schälen, das konnte sie, das hatte sie schon oft für ihre Mutter gemacht. Die Schalen fühlten sich anders an als das eigentliche Gemüse darunter. Nachdem die Rüben geschält waren, hängte sie einen Kessel mit Wasser an das Dreibein über der Feuerstelle und kochte die Wurzeln mit ein bisschen Gewürz – all diese Dinge konnte sie gut ertasten bzw. erschnuppern. Endlich war die Suppe fertig und die Räuber schmatzten gierig. Dem Prinzen gaben sie anscheinend nichts davon ab, in die Ecke, in der dieser gefesselt lag, bewegte sich keiner der Kerle. Nur die leichtere und mit leiseren Füßen gehende Hexe schien einmal nach dem Prinzen zu sehen, kehrte dann aber wieder zu den Räubern zurück. Nach dem Essen wurde laut gerülpst, dann wurden die Schüsseln auf einen Haufen geworfen, Rosenblau solle das Geschirr waschen. Die Räuber und auch die Hexe streckten sich auf dem Höhlenboden aus, bald erfüllte vielstimmiges Schnarchen die stickige Höhlenluft. Hoffentlich schliefen wirklich alle, auch die Hexe!
Auf Zehenspitzen schlich Rosenblau in die Ecke, in der, wie sie herausgefunden hatte, der gefesselte Prinz lag. Das Küchenmesser nahm sie mit. Ihre geschickten Finger tasteten nach den Stricken, mit denen der Prinz an Händen und Füßen gebunden war, schon durchtrennte die Klinge des Küchenmessers die Seile. Den Knoten des Knebels öffnete sie mit wenigen Handgriffen. Dass dies in völliger Dunkelheit geschah (weil die Räuber das Feuer hatten ausgehen lassen), machte für sie ja keinen Unterschied!
Der Prinz hatte schnell begriffen, dass für ihn Rettung nahte. Er verhielt sich absolut still und ließ es zu, dass sie seine Fesseln löste und ihn dann leise schleichend an den Räubern vorbei zum Höhlenausgang führte. Sie hatte sich inzwschen alle Entfernungen gut eingeprägt, weil sie immer ihre Schritte von einer Biegung zur nächsten mitzählte.
Als sie mit dem Prinzen hinter dem Brombeergestrüpp hervorkroch, erwachte Rußschwarzchen aus seiner Erstarrung. Mit vor ungläubigem Staunen weit aufgerissenen Augen kam er schwerfällig hoch und stolperte wortlos auf sie zu. Vor Glück konnte er nicht sprechen, er umarmte sie stumm.
Aber dann musste alles schnell gehen. Unverzüglich machten sich die drei auf den Weg zum Königsschloss. Sie wanderten im Eilschritt, an schwierigen Stellen trug der Prinz das blinde Mädchen über Hindernisse. Noch ehe der Morgen graute, erreichten sie das Schloss, wo der Prinz natürlich mit großem Hallo empfangen wurde. Dieser winkte jedoch ab und gab seine Anweisungen: Im Galopp sollten die Ritter in den Räuberwald reiten, so schnell wie möglich. Vielleicht kamen sie zur Höhle, bevor dir Räuber aufwachten.
Und wirklich, es klappte: Als die Ritter in die Höhle stürmten, waren die Räuber noch so schlaftrunken, dass sie sich kaum wehren konnten. Und die Hexe? Die war sehr glücklich über das Eintreffen der Ritter. Sie konnte glaubhaft versichern, dass die Räuber sie nur gezwungen hatten, für sie zu arbeiten. Jetzt wollte sie gerne nur noch für den guten König zaubern – und um dies zu beweisen, verwandelte sie die Räuber auf der Stelle in hässliche Kröten. So bestraft musste man die Räuber nicht einmal im Kerker einsperren und dort beaufsichtigen. Schließlich wurde auch das Pferd des Prinzen aus der Räuberhöhle befreit und zum Schloss gebracht.
Rosenblau und Rußschwarzchen bekamen die vom König versprochene Belohnung von eintausend Goldtalern. Das blinde Mädchen äußerte jedoch eine Bitte: „Oh, Majestät, das ist zu gütig, und ich würde die Belohnung gerne mit meinem lieben Freund teilen. Aber Rußschwarzchen wird enttäuscht sein. Mit Gold kann er nichts anfangen. Er hofft, seine geliebten Weihnachtsplätzchen als Belohnung zu bekommen.“
Da lachte der gütige Monarch und legte auf die 1000 Taler noch eine Zusatzbelohnung drauf: Der Koch im Schloss sollte fortan jede Woche Weihnachtsplätzechen backen, eine große Dose randvoll. Und die sollten dann von einem Boten zu Rußschwarzchen gebracht werden. Als der Junge dies hörte, strahlte er über das ganze Gesicht.
Rosenblau und Rußschwarzchen lebten nun glücklich im Dorf. Von allen Dorfbewohnern waren sie hoch angesehen, hatten doch sie das Wunder vollbracht, den Prinzen zu befreien. Die anderen Leute im Dorf stritten sich geradezu darum, den beiden nun helfen zu dürfen.
So lebten die beiden Freunde lange und glücklich. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann essen sie noch heute Plätzchen.


© 2020 Bertram der Wanderer und die Klasse 2a der Grundschule an der St.-Konrad-Straße, Haar

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Gepostet am

8. März 2020