Kinder der Grundschule an der Schrobenhausener Straße, München (Aktion der Ganztagsbetreuung im Oktober 2018)

… Die Ohren von Rosenblau waren besser trainiert als die der meisten Menschen, musste sie sich doch des fehlenden Augenlichts wegen immer über das Gehör orientieren. Deshalb vernahm sie diese Schritte auch schon lange, bevor die Person, von der die Schritte stammten, sie entdecken hätte können. Das Mädchen machte ihrem Freund Rußschwarzchen nur ein rasches Zeichen, und er verstand sofort: sie brauchte absolute Ruhe, um etwas zu erlauschen. Zwar hatte der Junge keine Ahnung, worum es ging, aber die beiden kannten sich so lange und so gut, er wusste, dass sie eben „mit den Ohren sah“.
Etwa zwei Sekunden verharrten die beiden regungslos, schon flüsterte sie: „Da kommt jemand. Eine einzelne Person, sie geht zielstrebig, aber nicht sehr schnell. Wer könnte das sein? Verstecken wir uns lieber, aber nicht bei diesem seltsamen Brombeerstrauch hier vor uns. Brombeeren im Mai, das ist mir nicht geheuer! Siehst du etwas anderes, wo wir…“
Sie konnte ihren Satz nicht einmal beenden, schon gab Rußschwarzchen flüsternd zurück: „Hier auf der anderen Seite von dem schmalen Weg, da ist ein toller Kletterbaum. Die Äste sind tief, mit vielen Verzweigungen.“ Sofort ergriff er ihre Hand und führte sie zu einem niedrigen Ast, den sie gut umklammern und sich daran hochziehen konnte. Die beiden Freunde liebten es, im Garten hinter ihren Elternhäusern auf den Bäumen zu sitzen. Seit sie denken konnten, hatten sie das gemeinsam gemacht. Daher wusste der Junge auch, dass das Mädchen trotz ihrer Blindheit eine geschickte Kletterin war: sie tastete einfach nach den besten Griffen, ihre Arme waren stark.
Bis die Schritte nah genug waren, dass man die beiden hätte sehen können, saßen diese schon hinter dichtem Laub verborgen auf starken Ästen. Man hätte schon sehr genau hinsehen müssen, um sie zu entdecken. Aber wer macht das schon? Kaum jemand wandert durch den Wald und schaut dabei an den Bäumen hinauf, muss doch jeder auf den Weg vor den eigenen Füßen achten.
Oben im Baum wagte Rosenblau kaum zu atmen. Wer kam da? Vermutlich ein Mann, er setzte die Schritte weit auseinander, Frauen machen meist kleinere Schritte. Zweimal vernahm sie einen leisen Ton, fast wie Musik, der irgendwie hinter dieser Person hervorkam. Was war das? Plötzlich hielten die Schritte inne, sie hörte ein Rascheln schräg unterhalb von ihrem Lauschposten, dann verklangen die Schritte langsamer und irgendwie dumpfer. Sehr seltsam.
Eine kleine Weile wartete sie noch, dann fragte sie ihren Freund, was er gesehen hatte. „Ein komischer Bursche war das“, wisperte Rußschwarzchen. „Noch ziemlich jung, bunt angezogen, und auf dem Rücken hatte er so ein Musikinstrument, wie ich es vor Kurzem bei uns im Dorf gesehen habe, als dieser wandernde Sänger da war, du weißt schon. Aber der hat anders ausgesehen…“
„Ach, ein Barde!“ Rosenblau musste sich bemühen, nicht laut zu sprechen, so aufgeregt war sie. „Und die zwei Töne, die ich gehört habe, sind entstanden, als versehentlich ein Ästchen oder so eine Saite berührte. Aber wo ist er jetzt? Er ist doch nicht auf dem normalen Weg weitergegangen?“
„Nein,“ bestätigte ihr Freund, „das verstehe ich überhaupt nicht. Der Kerl ist hinter die Zweige von diesem Brombeerstrauch gekrochen, und dann war er weg…“
Jetzt fiel es Rosenblau wie Schuppen von den Augen: „Dann ist dahinter der Eingang zur Räuberhöhle. Und um den zu tarnen, haben die Räuber diese seltsamen Brombeeren gepflanzt. Wenn das wirklich welche sind. Vielleicht ist es eine giftige Sorte. Oder die sind verzaubert…“
Die beiden Freunde besprachen sich kurz flüsternd, dann hatten sie einen Plan ausgeheckt. Vorsichtig kletterten sie von dem Baum herunter, Rußschwarzchen führte das blinde Mädchen zu dem Brombeerstrauch. Sie knieten sich auf den Boden und krochen langsam von der Seite dahinter, wobei der Junge fürsorglich darauf achtete, dass sich Rosenblau nicht an Dornen stach. Wirklich, hinter dem Strauch war der Eingang einer Höhle, die in den Berg hinein und leicht nach unten führte. Schritt für Schritt tasteten sie sich dort hinein. Für Rosenblau machte das anfängliche Dämmerlicht in der Höhle, das immer mehr von Dunkelheit verdrängt wurde, keinen Unterschied, bei ihr war es ohnehin immer dunkel. Bald hörten sie mehrer Stimmen und verharrten regungslos an die Höhlenwand gedrückt: Um ein kleines Lagerfeuer saßen mehrere Männer, die viel Bier tranken und laut redeten. Eine Frauenstimme war immer wieder herauszuhören, es musste wohl eine Art Anführerin sein. Jetzt fragte diese einen der Männer: „Und die Leute in der Stadt haben dir das mit dem Barden wirklich abgenommen, so schlecht wie du singst? Hast du was herausfinden können?“
„Ha ha“, antwortete der bereits leicht lallend, „so schlecht singe ich gar nicht. Außerdem hab‘ ich erzählt, dass ich gerade heiser bin, da wollte mich keiner hören. Aber ich hab‘ was herausgekriegt: der König hat eine Belohnung für den Prinzen ausgesetzt. Tausend Taler! Wir hätten ja nur 500 erpressen wollen. Aber das ist doch besser: wir sagen, dass wir den Prinzen befreit haben, dann kriegen wir tausend Taler! Haha!“ Die Räuber stießen mit ihren Bierkrügen an und tranken schlürfend.
„Ja, sauft nur“, meinte die Frau, „und gebt mir auch Bier. Jetzt werden wir reich, da kaufen wir uns noch mehr Bier. Das sage ich, so wahr ich die beste Hexe des Waldes bin!“ Alle riefen laut „Prost!“ und schlürften weiter das Bier in sich hinein.
In Rosenblaus Kopf arbeitete es fieberhaft. Eine Hexe, hatte diese Frau gesagt, anscheinend war sie wirklich eine, dann hatte sie wohl diese Brombeeren hergezaubert. Und die Frauen im Dorf hatten von seltsam veränderten Wegen im Wald gesprochen, da steckte bestimmt auch die Hexe dahinter. Der Prinz war von diesen Räubern gefangen, vielleicht irgendwo in dieser Höhle..?
Mit Rußschwarzchen blieb sie erst einmal versteckt. Für den Jungen war es schwierig, so lange still zu bleiben, aber er gab sich große Mühe. Und die Räuber waren bald so betrnken, dass sie nur noch grölten. Dann fielen die Räuber einer nach dem anderen um und begannen zu schnrachen. Hoffentlich auch diese Hexe.
Ohne einen Laut zu verursachen, tasteten sich die beiden Freunde nun in die Höhle hinein. Rußschwarzchen entdeckte einen kleinen Gang, der nach rechts abzweigte. Ob hier der Prinz war? Langsam schlichen sie in diese Richtung, auf einmal stürzte Rosenblau nach unten. Hier war ein Loch im Boden, das sie natürlich nicht gesehen hatte. Schmerzhaft schlug sie etwa zwei Meter tiefer auf dem Steinboden auf. Ihr Freund schrie vor Schreck nur leicht auf, schon war er bei ihr, aber er hatte die Leiter genommen, die am Rand dieser Grube lehnte. Vor den beiden lag jemand gefesselt auf dem Boden, das entdeckte Rußschwarzchen im wenigen Licht, das noch zu ihnen drang. Der Prinz! Schon tasteten die geschickten Finger des Mädchens nach den Knoten in den Stricken, mit denen der Prinz gefesselt war. Der Knebel, der seinen Mund verschloss, war gleich darauf gelöst. Rußschwarzchen bemühte sich, seiner Freundin zu helfen, aber er konnte eigentlich nur staunend ihren geschickten Händen zuschauen.
Als der Prinz wieder auf seinen Beinen stand, wollten sie zu dritt an dieser Leiter nach oben klettern, doch plötzlich war eine lallende Stimme zu hören: „Ha ha, wen h.h.haa…aben wir d…d…denn da? Noch mehr … Gefannnenne!“ Es hätte wohl ‚Gefangene‘ heißen sollen. Im gleichen Moment zog der Räuber die Leiter nach oben weg, so dass nun alle drei in dieser Grube festsaßen. Dann torkelte der Räuber wieder zum Bierfass zurück, vermutlich hatte er schon vergessen, was er gerade gesehen hatte.
Was sollten die drei nun machen? Jetzt waren sie alle bei den Räubern gefangen, und wenn diese ihren Rausch ausgeschlafen hatten, könnte es sehr schlimm werden. Niedergeschlagen setzten sie sich auf den Boden der Grube. Der Prinz wollte seinen Helfern danken und versuchte, sie mit wohlmeinenden Worten zu trösten. Aber die Sprache des Prinzen klang für Rußschwarzchen so verwirrend kompliziert. Da kam er nicht mit. Lieber schaute er sich diesen Prinzen genauer an. So einen Prinzen hatte er ja noch nie gesehen. Am Gürtel hatte der so ein komisches Ding, eine Art Rohr, gebogen, nein es war wie ein großes Horn. Behutsam zog er es aus der Lederhalterung am Gürtel, dann drehte er es in seinen neugierigen Händen. Der Prinz war dem Mädchen zugewandt, er merkte es nicht einmal. Am dünnen Ende des Horns war eine kleine Öffnung, Rußschwarzchen hatte schon mal gesehen, dass man bei so einer Öffnung hineinblasen konnte, dann kam ein Ton heraus. Die Hirten hatten so etwas, und auch die Jäger. Natürlich konnte der Junge nicht widerstehen: er holte tief Luft, ein ohrenbetäubender Laut schallte durch die Höhle, langgezogen, schief, einfach schrecklich. „Oh Gott, das ist mein Rufhorn, Junge, was machst du…?“, entfuhr es dem Prinzen, nachdem der sich von seinem ersten Schreck erholt hatte.
Die Räuber hatten den nicht besonders musikalischen Krach natürlich auch gehört. Und sie glaubten, dass die Ritter des Königs ihre Höhle entdeckt hätten und zum Angriff bliesen. So schnell die betrunkenen Räuber konnten, rappelten sie sich hoch und liefen Hals über Kopf davon. Ihre Waffen ließen sie in der Höhle zurück, ebenso den Zaubererstab der Hexe.
Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt: Mit Hilfe einer „Räuberleiter“ kamen der Prinz und seine Retter aus dieser Grube hinaus: zuerst ließ der Prinz Rußschwarzchen in seine Hand steigen, dann stemmte er ihn hoch, im Nu war er oben. Dann hob der Prinz das Mädchen hinauf, wo der Junge ihre Hand ergriff und zu sich hochzog. Die beiden oben legten sich daraufhin am Rand der Grube auf den Bauch und streckten dem Prinzen ihre Hände entgegen, so dass auch dieser hinaufklettern konnte.
Gemeinsam wanderten sie auf schnellstem Weg zum Schloss, wo der König seinen Sohn glücklich in die Arme schloss. Natürlich schickte der Prinz seine Ritter sogleich in den Wald, diese konnten die waffenlosen Räuber leicht gefangen nehmen. Und auch die Hexe, die ohne ihren Zauberstab nicht mehr zaubern konnte.
Unverzüglich ließ der König den Rettern seines Sohnes die versprochene Belohnung von tausend Talern auszahlen. So kehrten sie wohlbehalten und reich in ihr Dorf zurück. Und was machten sie mit dem vielen Geld? Rußschwarzchen, der doch Weihnachtsplätzchen über alles liebte, hatte einen großartigen Einfall: Von der ältesten Großmutter im Dorf lernten die beiden backen. Und dann eröffneten sie mit dem Geld ein Spezialgeschäft für Weihnachtsplätzchen. Im ganzen Land waren ihre Plätzchen bald berühmt, sogar ins Königsschloss durften sie diese Plätzchen liefern. Denn nirgendwo sonst konnte man im Mai Vanillekipferl und im Juli Zimtsterne kaufen.
Die beiden lebten lange glücklich im Dorf, von allen hoch angesehen. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann backen sie noch heute.

© 2018 Bertram der Wanderer und die Kinder der IGEL-e.V.-Ganztagsbetreuung in der Grundschule an der Schrobenhausener Straße

Fähigkeiten

Gepostet am

18. November 2019

Kommentar absenden

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert