2. Klasse der Grundschule Salching (Schuljahr 2019/2020)

… Aber wie Schritte hörten sich die Geräusche, die das blinde Mädchen Rosenblau hier vernahm, eigentlich gar nicht an. Es war eher ein Rascheln, begleitet von eigenartigem Schmatzen. Was war das? Rosenblau fühlte sich unsicher. „Rußschwarzchen, irgendetwas kommt da. Es muss sehr klein sein, vielleicht ein Tier. Oder ein Zwerg? Schau dich mal bitte um“, flüsterte sie ihrem Freund zu.
Dieser wandte sich auch sofort um und spähte angestrengt in den Wald. „Ein Zwerg?“, fragte er, während er Ausschau hielt. „Meinst du so ein kleines Männchen mit Zipfelmütze und Bart? Oft tragen Zwerge eine Hacke oder eine Schaufel, manchmal auch eine Angel. Das hat mir meine Oma mal erzählt.“
Während dieser Rede war das Rascheln näher gekommen, offenbar befand sich die Quelle des Geräuschs ziemlich dicht über dem Boden. Aber weil der Junge so viel plapperte, konnte sich Rosenblau nicht auf das Lauschen konzentrieren. Sie machte einen Schritt zur Seite und drehte sich dabei, um ihr Ohr besser dem Geräusch zuwenden zu können. Barfuß war sie, ihr Freund auch. Arm wie die beiden waren, liefen sie eigentlich den ganzen Sommer über barfuß, ihre Eltern erlaubten Schuhe nur in den Monaten, in deren Name ein „R“ enthalten war. So konnte man sich das Geld für Sommerschuhe sparen – und für Rosenblau war es ohnehin besser, barfuß zu laufen, über die nackte Haut spürte sie mehr.
Aber jetzt wurde ihr das Barfußlaufen zum Verhängnis. Sie trat nämlich auf etwas Hartes, das noch dazu sehr spitzig war. „Auuuu!“, entfuhr ihr ein lauter Schmerzensschrei – sie war genau auf den Igel getreten, der da im Wald direkt auf sie zuraschelte.
Der liebe Nachbarsjunge Rußschwarzchen fuhr herum: „Rosenblau, was ist mit dir? Hast du dir weh getan? Was ist passiert?“ Vor Schreck schrie er diese Fragen geradezu heraus.
„Pssst“, machte das Mädchen noch, aber es war zu spät. Die beiden standen ja vor dem Brombeerstrauch, der den Eingang zur Räuberhöhle verdeckte, ihre lauten Stimmen drangen bis dort hinein. Und nicht nur das: eine Gruppe der Räuber war im Wald unterwegs, auf der Suche nach möglicher Diebesbeute. Diese Räuber befanden sich gerade auf dem Rückweg zu ihrem Versteck und hörten ebenfalls das Geschrei. Von beiden Seiten stürzten nun Männer auf Rosenblau und Rußschwarzchen zu. Die beiden versuchten zwar noch, sich irgendwo zu verstecken, aber vergebens: Schon waren sie entdeckt, harte Männerhände griffen nach ihnen.
„Lass meine Freundin los, du Mistkerl!“, schrie Rußschwarzchen einen der Räuber an, der das wehrlose Mädchen sehr grob gepackt hatte. Der tapfere Junge wollte sogar auf den dunkel gekleideten Mann losgehen, aber schon traf ihn ein Faustschlag.
Rosenblau war vor Schreck wie erstarrt. Da sie ja nichts sehen konnte, versuchte sie anhand der Geräusche irgendwie zu erkennen, was vor sich ging. Eines war ihr rasch klar: sie mussten direkt auf die Räuberhöhle gestoßen sein. Das Rascheln, das sie vorhin so irritiert hatte, stammte wohl von dem Igel, auf den sie getreten war. Aber jetzt waren sie in der Hand der Räuber – was würden die mit ihnen machen?
Plötzlich vernahm sie eine harte, das Befehlen gewohnte Frauenstimme, die Frau schien direkt hinter diesem seltsamen Brombeerbusch hervorzukommen. Vermutlich war dort der Eingang zur Räuberhöhle versteckt: „Männer, wen habt ihr da? Was ist los?“
„Zwei Jugendliche, sie haben uns entdeckt“, brüllte der Räuber, der das Mädchen mit eisernem Griff festhielt, zurück.
„Hmmm…“, machte die Frau, offenbar überlegte sie. „Die zwei sind arm sie haben ja nicht mal Schuhe. Denen können wir nichts stehlen. Aber sie dürfen uns nicht verraten. Du da, nimm einfach deinen Säbel und mach die zwei kalt. Sie dürfen nichts ausplaudern. Und ihr anderen, kommt wieder in die Höhle, wir müssen den Prinzen bewachen, der ist viel Geld wert!“
„Jawohl, Hexe!“ brüllte es von allen Seiten zur Antwort, dann hörte das Mädchen, wie die meisten der Männer und wohl auch diese Frau, die ‚Hexe‘ genannt wurde, hinter die Brombeeren krochen. Ihre Schritte verklangen langsam. Sie selbst jedoch wurde weiter mit hartem Griff gehalten, neben ihr offenbar der vor Schmerz leise keuchende Rußschwarzchen, der sich nicht mehr wehren konnte. Würde der Räuber sie wirkich umbringen?
„Kalt machen“, knurrte dieser jetzt. „Das sollte ich, so hat es die Hexe befohlen. Aber ihr zwei seid arme Teufel…“
„Ich bin blind, ich kann nichts sehen,“ sagte Rosenblau rasch, wobei ein winziger Hoffnungsschimmer in ihr aufflackerte.
„Ach so, du siehst nichts? Und der andere, der ist wohl blöd, das merkt man ihm an. Dann verschwindet, ihr könnt uns nicht gefährlich werden. Ich lass euch laufen, mit eurem Blut will ich mir den Säbel nicht schmutzig machen. Haut ab!“ Er stieß sie hart auf den Boden.
Rußschwarzchen stürzte neben sie, aber schon rappelte er sich hoch, er hatte begriffen, dass er schnell mit ihr fliehen musste, das war bestimmt ihre einzige Chance. In gewohnter Weise ergriff er die Hand seiner Freundin und zog sie behutsam hinter sich hoch. Ohne ein Wort, ohne sich umzudrehen und vor allem ohne zu zögern führte er sie fort, in die Richtung zu ihrem Dorf. Rosenblau setzte einen Fuß vor den anderen, die rechte Fußsohle schmerzte noch von den Wunden der Igelstacheln, aber es war auszuhalten.
Sie wusste, dass sie sich auf ihren Freund uneingeschränkt verlassen konnte. Der Junge tat sich zwar meist mit dem Denken schwer, aber er führte sie völlig sicher an der Hand. Schon seit frühester Kindheit war er es gewohnt, für sie zu sehen, so wie sie für ihn oft dachte. Obwohl das Herz vor Angst und Schreck noch in ihrer Brust raste, zwang sie sich zur Ruhe. Automatisch zählte sie jeden ihrer Schritte mit, von einer Abbiegung bis zur nächsten, und prägte sich diese Schrittzahlen genau ein. Durch ihre Blindheit malte sie sich auf diese Weise stets eine Art „Landkarte“ im Kopf. So konnte sie sich orientieren – und so prägte sie sich auch ganz genau den Weg ein, der von der Räuberhöhle zum Dorf führte. Oder wieder zurück, wenn es darum ging, den Prinzen zu befreien. Dass der Prinz hier in dieser Höhle gefangen war, das war eindeutig aus den Worten dieser Hexe zu schließen. Und dass die Hexe wirklich des Zauberns mächtig war, daran gab es keinen Zweifel, wie sonst hätten reife Brombeeren im Mai vor der Höhle wachsen können? Jetzt musste sie nur noch mit den Bäuerinnen im Dorf sprechen. Wenn alle zusammenhalfen, dann könnte es ihnen gelingen die Räuber zu überlisten.
Den Weg zurück zum Dorf fand Rußschwarzchen übrigens fast ohne ihre Hilfe. Wenn er nicht lange überlegen musste, in welche Richtung sie gehen sollten, ging er unbewusst oft richtig, er hatte einen guten Orientierungssinn. Nur an zwei Wegkreuzungen war er unsicher, aber da konnte Rosenblau dank ihrer eigenen Orientierungstechnik die Entscheidungen treffen.
Als sie endlich im Dorf ankamen, waren die Bauern noch immer nicht zurück. Rosenblau hoffte sehr, dass die Räuber sie nicht „kalt gemacht“ hatten – einen Tag später sollten die Bauern zum Glück zum Dorf zurückfinden, aber bis dahin war schon fast alles geschehen.
Denn gleich nach ihrer Ankunft im Dorf erzählten die beiden Jugendlichen den Bäuerinnen, was sie herausgefunden hatten. Zuerst wollte ihnen niemand glauben, nur die älteste Großmutter hörte ihnen geduldig zu und machte dann einen genialen Vorschlag: Alle Frauen halfen zusammen und hoben mit Schaufeln eine große Grube im Wald aus. Diese deckten sie mit Zweigen und Blättern ab, niemand sollte diese Falle sofort entdecken können. Schon einmal hatte es ja gut funktioniert, die Räuber mit dem Duft eines frisch gebackenen Kuchens anzulocken – bestimmt würde dies auch ein zweites Mal gelingen. Noch während die jüngeren Frauen aus dem Dorf mit dem Graben der Falle beschäftigt waren, buken die Alten einen neuen Kuchen, den sie mit Hilfe von Rosenblaus gutem Orientierungssinn bis nahe zur Räuberhöhle brachten. Dann schlichen sie damit langsam zur Falle. Auf diese Weise legten sie eine duftende Spur, die die Räuber bald erschnüffelten. Natürlich wollten sich die Räuber samt der Hexe unverzüglich diesen köstlichen Kuchen holen: Sie stürmten aus ihrem Versteck, wobei sie nach vorne drängelten und sich gegenseitig umstießen, um nur ja am meisten vom Kuchen zu erhaschen. Bis die Räuber bei der Grube ankamen, stand der große Kuchen mit seinem lockenden Duft genau auf der anderen Seite der Falle – ein gewaltiges Gedränge begann. Niemand von den Räubern achtete auf den Boden, schon lagen alle in der Grube.
Die Hexe rappelte sich als erste wieder hoch. Als sie oben am Grubenrand die Frauen aus dem Dorf mit breitem Grinsen zu ihr hinunterblicken sah, wurde sie von Wut gepackt. Einen furchtbaren Zauberfluch schleuderte die Hexe auf die Bäuerinnen los: „Ihr alle sollt für immer zu Fröschen verzaubert sein. Hexhex!“
Genau damit aber hatte die alte Großmutter gerechnet. Deshalb hatte sie sich einen großen Spiegel mitgenommen, und den hielt sie nun der Hexe entgegen. So wurde der Zauber umgeleitet und traf nun alle in der Grube: die Räuber und auch die Hexe wurden für immer zu Fröschen. Als Menschen hätten die Räuber sich gegenseitig stützen und so aus der Grube hinaufklettern können – aber als Frösche war ihnen das natürlich unmöglich. Und in Froschgestalt hatte die Hexe auch keine Zauberkräfte mehr. Sie alle waren gefangen.
Nun musste Rosenblau die Bäuerinnen nur noch in die Räuberhöhle führen, der Eingang dazu war wirklich hinter den Brombeerbüschen versteckt. Bald fanden sie den gefesselten Prinzen, dessen Rettung jetzt nur noch wenige Augeblicke dauerte.
Und der Prinz musste sich gar nicht die ganze Geschichte, die zu seiner Befreiung geführt hatte, anhören: Schon als er Rosenblau erblickte, fiel er vor ihr auf die Knie und bat sie zunächst um Verzeihung dafür, dass er sie bei ihrer ersten Begegnung im Dorf so missachtet hatte. Nachdem sie lächelnd und mit einem Nicken diese Entschuldigung angenommen hatte, blieb er gleich auf seinen Knien und äußerte eine zweite Bitte: er wünschte, sie als seine Prinzessin ins Schloss heimführen zu dürfen.
Also ging die Geschichte mit einer wundervollen Hochzeit zu Ende. Der Prinz und Rosenblau lebten glücklich im Schloss, Rußschwarzchen aber durfte ebenfalls bei ihnen im Schloss leben. Ihn machte der Prinz dadurch glücklich, dass er der Köchin den Auftrag erteilte, dem Jungen immer Weihnachtsplätzchen zu backen, sooft dieser es wollte. Außerdem durfte er Rosenblaus Trauzeuge sein.
Die als Belohnung ausgesetzten 1000 Goldtaler wurden im ganzen Dorf gleichmäßig aufgeteilt, so dass alle Menschen dort ohne Not leben konnten.
Die Frösche aber wurden aus der Grube geholt und zur Strafe in einen morastigen Sumpf geworfen, wo sie fortan ihr Froschleben verbringen mussten. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann quaken sie dort noch heute.

© 2020 Bertram der Wanderer und die 2. Klasse der Grundschule Salching

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Gepostet am

25. Februar 2020