Klasse 4c der Grundschule an der Keilberthstraße, München (Schuljahr 2019/2020)

… Auch für die gut trainierten Ohren des blinden Mädchens waren diese Geräusche, die sich langsam näherten, nur schwer als Schritte zu identifizieren. Zuerst hielt sie sie für eine Art Rascheln, wie es manchmal Tiere verursachen, die durch hohes Gras gehen. Erst allmählich erkannte sie, dass es sich um Schritte handelte. Allerdings mussten sie von einer sehr kleinen Person mit sehr kurzen Beinen stammen, denn die leisen Schrittgeräusche kamen kurz hinter einander. Eine Art Trippeln. Oder war es doch ein Tier? Aber wenn ein Tier auf vier Pfoten läuft, klingt das eigentlich anders…
„Rußschwarzchen, dreh dich mal vorsichtig um. Da kommt jemand, aber es muss eine sehr kleine Person sein, vielleicht ein Kind, das rennt.“ Schon spürte sie, wie sich der Junge neben ihr umwandte. Auch wenn er nur sehr langsam denken konnte: wenn es darauf ankam, fühlte er, was wichtig war, und stellte dann keine Fragen. Außerdem vertraute er ihr bedingungslos. Für ihn war felsenfest klar, dass seine Freundin immer wusste, was zu tun war.
„Da kommt ein kleines Männchen, nicht viel größer als eine Katze“, raunte Rußschwarzchen ihr nun zu. „Ein Kind ist das nicht, denn er hat einen langen, weißen Bart und eine rote Zipfelmütze. Das muss ein Zwerg sein. Meine Oma hat mir mal eine Geschichte von so einem Zwerg erzählt. Zwerge graben doch oft irgendwo. Der hat auch so eine Art Hacke dabei…“
„Hat er uns schon entdeckt?“, wollte sie noch kurz wissen.
Der Junge neben ihr machte nur „Mm-mm“, um die Frage möglichst leise zu verneinen. Er kannte sie so gut, natürlich wusste er, dass sie sein Kopfschütteln nicht hätte sehen können. Über solche Dinge brauchte er nicht nachzudenken.
Eine Sekunde lang überlegte das Mädchen, dann entschied sie: „Ich glaube, der Zwerg ist für uns keine Gefahr. Wir wollen mit ihm sprechen, wenn er da ist.“ Durch die Geräusche der kleinen Trippelschritte wusste sie längst, dass der Zwerg zielstrebig auf sie zukam
Noch ehe sie den Zwerg hätte ansprechen können, rief der Zwerg den beiden zu: „Na, ihr zwei? Was macht ihr denn hier? Habt ihr euch verlaufen? Kann ich euch helfen?“
Seine Stimme klang so freundlich, so mitfühlend und hilfsbereit, da war sich das blinde Mädchen sicher, einen wohlwollenden Unterstützer gefunden zu haben. Trotzdem wollte sie nicht gleich alles verraten. „Na ja, wir suchen jemanden. Aber wir haben hier so seltsame Brombeeren gefunden. Reife Brombeeren im Mai – da stimmt doch etwas nicht.“
Der Zwerg kicherte leise: „Das will ich wohl meinen. Gut dass ihr so aufpasst. Hier hinter den Brombeeren ist nämlich der Eingang zu einer großen Höhle versteckt.Seitlich kann man hinter das Gebüsch kriechen, dort ist der Einganng. In der Höhle haust eine Räuberbande, bei den Räubern ist auch eine Hexe. Die hat die Brombeeren hierher gezaubert, ich glaube, dass sie sehr giftig sind. Ich wohne nämlich in der Nähe, und ich hab da etwas beobachtet. Einige Bauern wurden heute Vormittag durch die Beeren bewusstlos, die Räuber haben sie ausgeraubt und weggeschleppt.“
Nun fühlte sich Rosenblau in ihrem guten Gefühl bestätigt und berichtete dem Zwerg von dem entführten Prinzen. Rußschwarzchen ergänzte noch mit sich vor Begeisterung überschlagender Stimme: „Und weil wir den Prinzen befreien, kriegen wir die Belohnung. Gaaanz viele Weihnachtsplätzchen!“ Der Zwerg lächelte ihm lieb und aufmunternd zu, da war sich auch der Junge sicher, dass der Zwerg ein guter Mitstreiter war.
Das blinde Mädchen machte gleich einen Vorschlag: Da der Prinz vermutlich bei den Räubern gefangen gehalten wurde, wollte sie sich in der dunklen Nacht in diese Höhle schleichen. Denn die Dunkelheit verschaffte ihr einen einmaligen Vorteil: niemand würde sie sehen können, für sie war Finsternis aber der Normalzustand. Bestimmt würden die Räuber gemütlich schnarchen, während sich Rosenblau mit ihrem guten Gehör und ihrem feinen Tastsinn in der Höhle leicht zurechtfinden könnte.
Der Zwerg stimmte eifrig nickend zu, und für die Wartezeit bis zur Nacht hatte er eine gute Idee: Da er ganz in der Nähe in einem besonders großen Pilz wohnte, lud er die beiden Jugendlichen einfach dorthin ein. Im Pilz fanden die beiden Menschen zwar nicht genug Platz, aber der liebe Zwerg schleppte viele kleine Decken und Kissen heraus, so dass es sich seine Gäste auf der Wiese vor dem Pilz gemütlich machen konnten. In seiner Zwergenküche bereitete er für alle drei eine besonders schmackhafte Suppe zu. Mit kleinen Löffelchen ließen sich alle diese Spezialität schmecken und verkürzten die Wartezeit bis Mitternacht mit angenehmem Plaudern.
Endlich war es Zeit, die Prinzenrettung auszuführen. Auf leisen Sohlen schlichen die drei zur Räuberhöhle zurück. Aber dort mussten sie feststellen, dass nicht alle Räuber in der Höhle schliefen! Zwei Räuber und eine wie ein Räuber gekleidete Frau (wahrscheinlich die Hexe) hielten vor dem Brombeergestrüpp Wache. Was tun?
Plötzlich fing der Zwerg leise zu kichern an. Aus seiner winzigen Hosentasche holte er eine Handvoll Pulver, mit dem er lautlos zu diesen drei Wächtern schlich. Er warf das Pulver in die Luft und flitzte sofort mit angehaltenem Atem zurück zu seinen Freunden.
Und diese sollten nicht lange warten müssen, bis sie erfuhren, was der Zwerg mit seinem Pulver bezweckte. Bald wurde einer der Wächter sehr bleich im Gesicht und nuschelte der Hexe zu, er müsse ganz dringend hinter einem Gebüsch verschwinden, was diese mit einem ärgerlichen Brummen gestattete. Zum Glück suchte sich der Räuber ein anderes Gebüsch aus als das, hinter welchem sich die drei Freunde versteckten. Zur Sicherheit schlichen die drei noch ein Stück weiter weg – ein kluger Schachzug, denn schon wenige Augenblicke später suchte sich auch der andere Räuber ein Gebüsch zum Verschwinden. Der Hexe erging es nicht besser. Lautes Ächzen und Stöhnen erfüllte die Luft des nächtlchen Waldes, begleitet von einem entsetzlichen Gestank: das Zauberpulver bescherte den Wächtern vor der Höhle den schlimmsten Durchfall, den sie je erlebt hatten.
Nun waren sie so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass das blinde Mädchen ihren Plan ausführen konnte. Ihr Freund Rußschwarzchen führte sie wie gewohnt an der Hand zum Höhleneingang und kauerte sich dort auf den Boden, um ihr notfalls beistehen zu können. Rosenblau aber huschte lautlos hinein. Anhand des lauten Schnarchens der Räuber konnte sie unschwer deren Schlafplatz ausmachen. Von der anderen Seite der Höhle her vernahm sie leisere Atemgeräusche, dann stieg ihr ein vertrauter Duft in die Nase: das edle Parfüm des Prinzen! Schon war sie bei ihm und begann, mit ihren geschickten Händen die Knoten in den Stricken, mit denen er gefesselt war, und ebenfalls den Knebel in seinem Mund zu lösen. Natürlich erwachte der Prinz davon, aber er begriff sofort, dass das Mädchen seine Rettung war.
Alles dauerte nur ein paar Minuten. Schon trat der Prinz hinter Rosenblau aus der Höhle, wo Rußschwarzchen vor Erleichterung am liebsten laut gejubelt hätte. Mit einer zärtlichen Handbewegung verschloss das Mädchen ihm den Mund, hatte sie doch sein heftiges Einatmen gehört.
Bald hatten die drei Retter den Prinzen weit genug von den Räubern weggeführt, dass sie ein Gespräch wagen konnten. Rosenblau wollte dem Königssohn gerade berichten, dass sie und Rußschwarzchen aus dem nahe gelegenen Dorf stammten, da unterbrach er sie: „Im Mondlicht habe ich dein Gesicht längst erkannt, denn ich habe dich doch erst vorgestern im Dorf gesehen.“ Dann ließ er sich auf seine adeligen Knie fallen und bat sie, seine Frau zu werden.
Rosenblau lächelte leise, aber dann entgegenete sie: „Es ist für mich eine unaussprechliche Ehre, königliche Hoheit, und ich hoffe sehr, sie nie zu enttäuschen. Aber ich kann ihrem Wunsch nur unter einer Bedingung zustimmen: Rußschwarzchen war mir immer der liebste und treueste Freund, ihn zu missen würde mir das Herz brechen. Kann er ebenfalls im Schloss leben?“
Noch während der Prinz bereitwillig nickte, warf der Junge ein: „Kriege ich dann auch jeden Tag Weihnachtsplätzchen? So oft ich mag?“ Eine Bitte, die der Prinz unmöglich ausschlagen konnte.
Auf schnellstem Weg eilten alle nun zum Schloss, wo der König seinen befreiten Sohn glücklich in die Arme nahm, bevor er mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen alles erfuhr, was geschehen war. Nach kurzer Bedenkzeit traf der König eine weise Entscheidung: der Prinz und Rosenblau sollten selbstredend heiraten, Rußschwarzchen bekam ein wunderschönes Zimmer im Schloss und sollte seiner Freundin als Helfer zur Seite stehen. Die versprochene Belohnung von tausend Goldtalern, die ja keiner von beiden brauchte, bekam der liebe Zwerg, und außerdem sollte für diesen der größte Luxuspilz des ganzen Landes als gemütliche Wohnung ausgestattet werden.
Dann schickte der Monarch unverzüglich alle königlichen Ritter in den Wald, um die gesamte Räuberbande festzunehmen. Dies gelang auch problemlos, denn der furchtbare Durchfall hatte die Hexe so sehr geschwächt, dass sie ihre ganzen Zauberkräfte verloren hatte.
So wäre die Geschichte eigentlich schon vollständig gut ausgegangen, aber es kam noch besser: Im Schloss freundete sich Rußschwarzchen bald mit der Köchin an, die besonders leckere Plätzchenrezepte kannte. Die Köchin wiederum machte es glücklich, endlich jemanden kennen zu lernen, der ihre Backleidenschaft so wunderbar ergänzte – und bald läuteten die Glocken der Schlosskapelle erneut für eine ganz besondere Hochzeit.
Alle lebten lange glücklich im Schloss. Und vielleicht backt die Köchin auch heute noch die besten Weihnachtsplätzchen, die der genussfreudige Gaumen Rußschwarzchens je geschmeckt hat.

© 2019 Bertram der Wanderer und Klasse 4c der Grundschule an der Keilberthstraße, München

Fähigkeiten

Gepostet am

25. November 2019

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