… Das blinde Mädchen Rosenblau vernahm diese eigenartigen Geräusche mit ihren gut trainierten Ohren. Wie Schritte klang es zunächst, aber dann überlegte sie: ‚Nein, Schritte sind das nicht, es klingt anders. Aber irgendetwas kommt näher, die Geräusche werden langsam lauter. Vielleicht ein Tier? Ein Hund klingt so ähnlich, aber es müsste ein sehr großer Hund sein..?‘ Rasch wisperte sie ihrem Freund zu: „Rußschwarzchen, da kommt etwas, vielleicht ein großer Hund…“
„Oder ein Wolf“, flüsterte der Junge zurück. „Dann müssen wir schnell auf einen Baum klettern, da kommen Wölfe nicht hoch. Komm!“ Schon ergriff er ihre Hand und führte sie zu einem Baum, auf den man gut klettern konnte. Manchmal erstaunte Rußschwarzchen sie wirklich. Der liebe Nachbarsjunge, der meist nur schwer denken konnte, dessen Gedanken sich nur langsam und wie durch klebriges, verharztes Holz durch das Gehirn schraubten, hatte zuweilen richtige Geistesblitze. Vor allem, wenn er gar nicht lange überlegen konnte. Dann handelte er einfach intuitiv und übertraf alle anderen. Dieser große Hund, der da nähertappte, das konnte wirklich ein Wolf sein!
Es dauerte nur Sekunden, bis die beiden Freunde einen guten Kletterbaum erreichten. Rosenblau konnte sicher sein, dass es sich um den besten Kletterbaum in der Umgebung handelte. Denn Rußschwarzchen war ein Meisterkletterer. Unzählige Sommertage hatten die beiden im Garten der jeweiligen Familie mit dem Klettern auf Bäume verbracht. Immer hatte er sie zu einem Baum geführt und ihre Hand auf jene Stelle gelegt, an der sie sich am besten hochziehen konnte. Den Rest konnte sie mit Tasten und viel Muskelkraft bewerkstelligen – bis sie gemeinsam hoch oben in den Ästen saßen, den Vögeln lauschten, den Wind auf der Haut spürten und sich gegenseitig erfundene Geschichten erzählten.
Und genau wie in ihrer Kindheit verlief es auch jetzt: Rußschwarzchen lenkte die Hand des Mädchens auf eine tief sitzende, dicke Astgabelung, sie zog sich hoch, schon baumelten ihre Beine in der Luft, bis sie sich rittlings auf den Ast schwang. Die erste Hürde war geschafft, nun konnte sie ruhig und behutsam weiter nach guten Griffen und Haltepunkten tasten.Noch zwei weitere „Stufen“ kletterte sie im Baum nach oben, der Junge war immer nah an ihrer Seite, aber so, dass er sie nie behinderte. Sie waren einfach ein tolles Team!
Aber dann stotterte Rußschwarzchen plötzlich neben ihr: „Da…ddda… ist er, der…Wwwolf!“ Auch Rosenblau hörte schon das Schnüffeln und Hecheln des großen Tieres, sie spürte dessen strengen Geruch in der Nase. Zumindest waren sie vorerst sicher, bis zu ihnen hinauf konnte der Wolf bestimmt nicht springen.
Doch dann hörte sie eine leise, tiefe Männerstimme. Unter ihrem Baum ertönte diese Stimme, genau dort, wo der Wolf sein musste: „Habt keine Angst, ich will euch nicht fressen. Ich sehe nur wie ein Wolf aus, aber ich bin ein verzauberter Ritter des Köngs. Und ich rieche, dass ihr zwei nichts Böses im Schilde führt. Ihr wollt ebenfalls unserem Freund, dem Prinzen, helfen.“
„Spricht da wirklich der – Wolf?“, fragte das Mädchen ungläubig.
„Ja, er ist gar nicht böse“, antwortete Rußschwarzchen. Ein sprechender Wolf schien für ihn etwas ganz Normales zu sein. Rosenblau erinnerte sich, dass ihr Freund sich auch immer mit den Hühnern auf dem Hof seiner Eltern unterhielt.
Aber konnte sie dem Wolf wirklich trauen? Wie so oft verließ sie sich auf ihr Bauchgefühl. Die Stimme des „Wolfs“ klang noch in ihren Ohren, und diese Stimme hatte einen warmen, einen ehrlichen Ton, voll Sorge um einen anderen Menschen, aber aufrichtig und kein bisschen falsch. „Na gut“, entschied das Mädchen, „wir klettern wieder hinunter. Vielleicht können wir zusammenhelfen – und möge Gott uns beschützen!“
Nach wenigen Minuten standen sie und Rußschwarzchen wieder auf dem sicheren Boden unter dem Baum. Der Junge ließ sich vom Wolf die Hand lecken, dann berichtete die Männerstimme in Wolfsgestalt: Er und die anderen Ritter wollten ihren Freund, den Prinzen, suchen, der ja offenbar von den Räubern gefangen gehalten wurde. Deshalb waren sie in diesen Wald geritten und dabei auch in ein Dickicht geraten, in dem sie der wirren Äste und des Gestrüpps wegen nicht reiten konnten. Sie waren abgestiegen und zu Fuß weitergegangen. Plötzlich war inmitten des Gestrüpps ein anderer königlicher Ritter aufgetaucht, man sah es am Waffenrock, der mit dem königlichen Wappen bestickt war. In dem wirren Gestrüpp, in das kaum Licht drang, konnte aber niemand sein Gesicht sehen – es schien einer von ihnen zu sein. Der Ritter hatte eine Flasche aus seinem Mantel gezogen und allen zu trinken gegeben. Ein Schluck Wein nach all den Strapazen, gereicht von einem Freund – wer würde dazu schon ’nein‘ sagen? Doch kaum hatten alle Ritter getrunken, verwandelten sie sich in gefährliche Wölfe. Der Ritter mit der Flasche aber verwandelte sich plötzlich in eine schwarz gekleidete Frau und kicherte böse: „Haha, jetzt hab ich euch alle verzaubert. Wölfe seid ihr geworden, kein Mensch wird euch mehr an sich heran lassen. Niemandem werdet ihr verraten können, wo der Prinz ist. Die Menschen werden euch fürchten und so bald wie möglich erschlagen. So hab ich euch elegant aus dem Weg geräumt.“ Dann war die Hexe im Dickicht verschwunden.
„Wirklich, alle meine Freunde können seither nicht sprechen, sie heulen nur ihr Wolfsgeheul. Bloß ich, weil ich kaum Wein getrunken habe. Ich musste immerzu an unseren lieben Prinzen denken, ich war so traurig. Da hatte ich wirklich keine Lust auf Wein und habe nur ein bisschen an der Flasche genippt. Das ist vielleicht unser Glück, denn ich konnte euch zu Hilfe holen. Ihr habt mir vertraut, aber wer sonst würde einem Wolf trauen?“
„Dann befreien wir eben gemeinsam den Prinzen. Und diese blöde Hexe da, die hauen wir.“ Für Rußschwarzchen war alles ganz einfach. Das Mädchen kannte ihn gut genug, dass sie wusste, wie recht er manchmal mt seinen einfachen Lösungen hatte. Kurz überlegte sie noch, dann entwickelte sie zusamen mit dem Wolf einen Plan, den sie auch gleich in die Tat umzusetzen begannen.
Zuerst rannte der Wolf in den Wald und holte die anderen Ritter, die zu Wölfen verzaubert waren. Dies dauerte nur wenige Minuten, denn alle Wölfe waren ganz in der Nähe. Dann versuchten die Wölfe gemeinsam die Spur des Prinzen aufzunehmen. Sie witterten nach allen Seiten, bis Rußschwarzchen unvermittelt ein edles Stofftaschentuch aus der Hosentasche zog: Das Taschentuch des Prinzen, das er und Rosenblau zuvor im Wald entdeckt hatten. Er hatte es einfach in die Tasche gesteckt, weil ihm niemand gesagt hatte, wohin er es hätte tun sollen. An diesem Taschentuch schnüffelten nun die Wölfe und nahmen so die Witterung auf. Und siehe da: die Spur führte genau zu diesem Brombeerstrauch, an dem jetzt im Mai eigenartigerweise schon reife Früchte hingen. Dahinter musste etwas versteckt sein, vielleicht der Eingang zur Räuberhöhle?
Die Wölfe stellte sich im Halbkreis um den Brombeerbusch auf, dann begannen sie laut zu heulen. Sekunden später kamen schon die neugierigen Räuber samt der Hexe aus der Höhle, sie krochen hinter dem Brombeerbusch hervor – und erstarrten vor Schreck, blickten sie doch in gefährliche Wolfsrachen mit gefletschten Zähnen. Auch die Hexe erschrak furchtbar. Vor Schreck vergaß sie, dass sie selbst diese Wölfe herbeigezaubert hatte. Ehe sie sich mit einem Zauberspruch hätte schützen können, sprangen alle Wölfe mit einem Satz auf sie zu und zerrissen sie mit ihren messerscharfen Zähnen. Auf diese Weise starb die böse Hexe auf der Stelle, und all ihr Zauber erlosch. Wie durch ein Wunder verwandelten sich die Wölfe wieder in Ritter, der Brombeerstrauch, der den Höhleneingang verdeckt hatte, verschwand.
Da die Räuber aber beim Anblick der Wölfe vor Schreck ihre Säbel und Keulen fallen gelassen hatten, war es für die Ritter ein Leichtes, die schwarzen Kerle zu überwältigen.
Rußschwarzchen und Rosenblau hingegen warteten den Ausgang dieses Gerangels gar nicht ab. Der Junge führte seine blinde Freundin in die Höhle hinein, in der hier herrschenden schwarzen Finsternis konnte sie sich alleine gut vorwärtstasten. Für sie war die Dunkelheit ja kein ungewohntes Hindernis. Mit ihrem feinen Geruchssinn entdeckte sie bald das besondere Parfum des Prinzen, schon kniete sie neben ihm, ihre geschickten Hände lösten die Knoten der Fesseln.
Als die beiden Freunde mit dem Prinzen aus der Höhle kamen, jubelten die Ritter laut und umarmten ihren königlichen Freund, wobei sie natürlich nicht vergaßen, die gefangenen Räuber weiter in Schach zu halten. Natürlich erkannte der Prinz im hellen Sonnenlicht sogleich das schöne Mädchen Rosenblau, das er schon tags zuvor im Dorf gesehen hatte, und er bat sie, seine Frau zu werden. Sie aber lehnte lächelnd ab: „Ihr Antrag ehrt mich sehr, königliche Hoheit, aber ich bin ein einfaches Bauernmädchen. In ein Schloss passe ich nicht. Zu Hause in unserem kleinen Dorf, neben meinem lieben Freund Rußschwarzchen, da fühle ich mich wohl. Ich möchte gerne hier bleiben.“
Da musste der Prinz einsehen, dass man auch mit Geld und Gold nicht alles im Leben erreichen kann. Er verneigte sich sogar vor diesem ungewöhnlichen Mädchen, dann suchter er sein Pferd, das die Räuber in einem entlegenen Teil der Höhle angebunden hatten. Ein paar Ritter holten deren Pferde, die anderen bewachten inzwischen die gefangenen Räuber. Bald wurden diese zum Kerker des Schlosses geführt, flankiert von den Rittern auf Pferden, so dass keiner der Räuber fliehen konnte.
Dem blinden Mädchen Rosenblau und ihrem Freund Rußschwarzchen wurden bald darauf die eintausend Goldtaler ausbezahlt, die der König als Belohnung ausgesetzt hatte. Anfangs war der Junge darüber sogar ein bisschen enttäuscht, hatte er sich doch immer Weihachtsplätzchen als Belohnung gewünscht. Aber bald merkte er, dass er mit den Talern ein reicher Mann im Dorf war, den alle achteten. Und dass er nie mehr Not zu leiden brauchte.
Er und Rosenblau lebten nun glücklich im Dorf in den beiden ihnen so vertrauten Nachbarhäusern. Alle Dorfbewohner ehrten und bewunderten diese zwei Helden. Rosenblau lernte von ihrer Mutter, wie man Plätzchen backt. Sie beherrschte zwar nur zwei oder drei Sorten, aber die waren für Rußschwarzchen die liebsten, schönsten, besten Genüsse. Besser als alles, was sich ein Mensch je erträumen kann.


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